Sonntag, 23. Oktober 2011

Am 28. Februar 1571

Er wendet sich ab, steigt den Turm hinauf, zieht sich, müde vom Treiben der Welt, zurück.
Er lässt sich Inschriften auf den Balken anbringen, lässt sie einbrennen in das Holz - die Summe der Weisheiten, die Stimmen der Alten, Sätze wie "Ich sehe, dass wir alle, die wir leben, nichts sind als Schemen oder flüchtige Schatten." oder "Ich verstehe nicht."
Er sperrt alles aus, um zu denken. Er verflucht die Welt nicht, allein: er hält nicht viel von ihr, sitzt zwischen Büchern, schaut wie das Licht langsam an der groben Steinwand entlang wandert.
Er schreibt einen Text und der Text schreibt ihn. Er ist für alle Zeit der Mensch, der in selbstgewählter Einsamkeit zu sich kommt, dessen Versuche noch heute jenes "Que sais-je?" als Frage in eine Welt halten, die keine Frage mehr zum Ende denkt.

Zeit, in den Turm zu gehen, Worte in die Balken zu brennen, die Welt auszusperren.

Freitag, 21. Oktober 2011

Montag, 17. Oktober 2011

Now I know: a year has 12 days

Eine Biene fliegt um den Kaffeebecher. Niemand weiß, was es bedeutet.
Ich stehe auf und sage: "Sie ist tot!"
Die anderen sehen mich nicht an, aber ich weiß, dass sie keine Ahnung haben, wovon ich spreche.
Ich sage: "Manchmal schreibt sie ein Wort so oft, dass eine einsame lange Schlangenlinie daraus wird. Dann darf man ihren Namen nicht sagen. Sie ist im Begriff zu vergessen, wer sie ist."
Die anderen schauen zu Boden, setzen aber dann ihre gemurmelten Unterhaltungen fort.
Es kann sein, dass diese Abende länger sind als andere. Auf sie folgen stille rußgeschwärzte Nächte.
Und die Biene?
Was flüstert die verirrte Biene in Gegenwart des Kaffeebechers?

Freitag, 14. Oktober 2011

Die Hausnummer ist 123

„Die Spiele haben Farben wie anderswo die Tiere“, sagt sie und lacht. Ich schüttele den Kopf: „Das ist mir zu politisch.“ Ich lache nicht. Wir lauschen auf den Äther: In Frankfurt zünden sie die Autos an, im Radio ist man bemüht, zu erklären, dass es alle Fabrikate betrifft – wichtig: Kraftfahrer-Solidarność erzeugen! Nächste Meldung: Occupy Wall Street und „Fuck the FED“ – ernstzunehmender Widerstand? In den USA? Da brat mir aber mal einer einen Storch! Meanwhile in Germany: Arbeitgeberpräsident Hundt hält Mindestlohn für "realitätsfern", er will die "Geringqualifizierten" durch Unterbezahlung 'in Schutz nehmen'. *hust*
In Frankreich: Schülerproteste gegen die Rentenreform! Mein lieber Scholli, was sind die Eleven weitsichtig. Und schon wieder brennen Autos. Haben denn die Leute den hübschen Meinhof-Aufsatz zur Kaufhausbrandstiftung nicht gelesen? Warenvernichtung kitzelt den Kapitalkreislauf kurz am Fuß und alle lachen. 
Später: Die Funknachrichten sind passé und wir stehen im leichten Regen vor Adornos Haus in der Kettenbachstraße, Frankfurt/Main. Sie raucht eine Zigarette zu Ehren des zweitgrößen Fernsehqualmers aller Zeiten und sagt: „Die Grenzen der Welt sind die Listen der eigenen Angst. Niemand kann sich von ihr freisprechen, aber jeder kann sie überschreiten.“

Mittwoch, 12. Oktober 2011

Nacht, Regen

Bei diesem Wetter drei Uhr nachts mit dem Hund rausgehen, durch den Regen stapfen und "Plainsong" von The Cure hören. Fühlt sich an, als würde es nimmer hell!

>> "I think it's dark and it looks like rain," you said, "And the wind is blowing like it's the end of the world," you said, "And it's so cold it's like the cold if you were dead," and then you smiled for a second. <<

Dienstag, 11. Oktober 2011

Kalte Herberge "Utilitaristische Ethik"

Moral und Freiheit, Umstände und Nutzen, Einschränkungen und Entschuldigungen. Infiniter Regress, Zirkelschluss, und eins fehlt noch (oder drei, je nach Modell).

Kann man bei allem fragen, woher es kommt, welchen Schaden seine Objektwerdung angerichtet hat und noch anrichtet?
Das Abstrakte eines fernen Todes macht unsere Produkte so leicht und günstig, unsere Tage so gutlaunig und bedürfnisreich, so erfüllt und bequem. - Doch Sokrates fiel das Trinken nicht schwer. Jene, die sich durch das Urteil ins Unrecht setzten, sah er als verzweifelter. Also lieber Unrecht leiden als Unrecht tun?

Freitag, 7. Oktober 2011

Der Abstieg

Verachtung für die Götter, Hass auf den Tod und die Liebe zum Leben: diese drei Dinge zeichnen Sisyphos – so Camus – aus.
Sisyphos stört die olympische Ordnung. Er verrät die geheimen Machenschaften Zeus’, legt Thanatos in Ketten, sodass auf Erden niemand mehr stirbt, und kehrt listig aus dem Reich des Todes zu seiner Frau zurück.
Doch Zeus’ Rache ist unausweichlich und so kommt der Mensch zu seinem Felsen, den er wieder und wieder den Berg hinauf zwingt.
„Sein Schicksal gehört ihm.“ Indem er den Stein als sein Schicksal annimmt, indem er am Hang mit der Inbrunst des Menschen wütet, vertreibt er die Götter aus dieser Welt.
„Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen.“ – und Sisyphos führt seinen Fels, immer wieder aufs Neue. Er weiß, so Camus, „dass die Nacht kein Ende hat.“
Doch jede Form der Materie hat ein Ende und Sisyphos hat Zeit: er zerreibt den Stein am Hang. Das ist seine Lösung. Und er besiegt die Götter ein letztes Mal. 
Ich glaube, wir müssen uns Sisyphos nicht nur als einen glücklichen, sondern auch als einen geduldigen und entschlossenen Menschen vorstellen. 

Samstag, 1. Oktober 2011

Wiesengrund tut Wahrheit kund

»Die Evidenz des Unheils kommt dessen Apologie zugute: weil alle es wissen, soll niemand es sagen dürfen, und gedeckt vom Schweigen mag es denn unangefochten weitergehen. [...] Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.«
Adorno, Minima Moralia