Sonntag, 18. November 2012

Kleine Parabel von der Lebenslust


Auf den Stufen vor dem Gefängnis hockt ein Mann im Filzmantel. In seiner Hand hält er ein Messer, auf dem ein Rotkehlchen sitzt.
Immer wenn der Mann Hand an sich legen will, fliegt der Vogel davon und er muss so sehr lachen, dass es ihm absurd erscheint, die geplante Tat auszuführen. 
Also beruhigt er sich wieder, hält das silbern blinkende Messer mit der stumpfen Seite nach oben in die Sonne und wartet auf das Rotkehlchen, das sich bald wieder flatternd niederlässt.

Donnerstag, 27. September 2012

Lass brennen

An Tagen wie diesem gefiel er sich darin, mit seinem Wagen durch die Straßen zu fahren, in erheblicher Lautstärke Zemlinskys "Der Traumgörge" zu hören und mit einer großkalibrigen schalldämpferbewehrte Waffe (eine allzu aufdringliche Unterbrechung des Musikgenusses wäre ihm unangemessen erschienen) auf Ampeln und Straßenbeleuchtung zu schießen.
"Ist es denn nicht so", dachte er bei sich, "dass nur eine größtmögliche Entfernung von der Realität uns ein inneres Aufatmen beschert? Und wenn ja: Wie ist das zu bewerkstelligen? Durch Auslöschung der Realität oder Auslöschung des Selbst?"
Das ganze Prinzip 'Realität' erschien ihm aufdringlich und widerlich. Dass da überhaupt Objekte waren, die einem als Gegenstand entgegen standen. Dieses klebrige An-sich-Sein der Dinge, die Sachverhalte, die bestimmten, wie irgendwas möglich ist. Je mehr er sich auf die Sache einließ, desto finsterer wurde seine Miene: Diese ekelerregende Washeit des ihn umgebenden Weltzusammenhangs, diese physische Präsenz von allem. Erkenntnistheoretisch war das ganze ein eher ungewöhnliches Problem: Gerade die Zugänglichkeit der Welterfahrung war ja das, was ihm - er gestattete sich einen Euphemismus - 'so wenig Freude bereitete'.
"Welche Wege gibt es denn", so fragte er sich, "die aktuelle sinnliche Erfahrung zu unterbinden und gleichzeitig den Erfahrungshorizont in solcher Weise zu überschreiben, dass einen auch das Erinnerte nicht länger belästigt?"
Er spuckte angewidert aus dem Wagenfenster und lud die Waffe nach.

Mittwoch, 8. August 2012

Kommune oder Kaisertum


„Für 2 Mark den Bauch voll.“, sagst Du und machst ein halbes Kilo Nudeln mit Pesto. Ich reibe den Käse, dann essen wir. 
Du putzt später die Fenster mit alten Zeitungen, in denen steht, wie die ganze Sache ins Wanken geraten ist. Eine davon zeigt die brennende EZB auf dem Titelblatt. Auf der Rückseite entdecke ich später den Wiederabdruck von Noam Chomskys berühmter Rede, gehalten kurz vor der großen Destabilisierung. Die anderen herumliegenden Zeitungen zeigen den ausgebombten Firmensitz von ExxonMobile, die Erstürmung des Procter&Gamble Headquarters durch die Massen, die unter Wasser gesetzten Büros der E.ON. Frankfurter Rundschau, Süddeutsche, Zeit. Die BILD gibt’s nicht mehr, das Springerhaus brannte schon ein paar Tage vor der EZB.
Seit die Fernsehsender nicht mehr senden, ist es stiller in den Straßen. Da ist Kerzenlicht an den Fenstern und Katzen liegen faul im Rinnstein. Die Autos stehen still, Sprit gibt’s schon lange nicht mehr, aber Fahrräder werden einem sofort geklaut, wenn man auch nur eine Sekunde zur Seite schaut.
Gute Cocktails gibt’s merkwürdigerweise immer noch, zumindest wenn man den Meister mit Kaffee versorgt. Aber auch unsere Kaffeevorräte sind nicht unendlich. „Ich weiß, wie der Hase läuft.“ sagst du und holst ein Pfund Fairtrade Guatemala Grande aus dem Erddepot am Fuße der drei mächtigen Buchen, die lustig im Abendwind nicken.
Später lese ich in einem absonderlichen Büchlein – „Der Taschentherapeut: in 60 Sekunden wieder okay“ – die alte Binsenweisheit, dass jede Krise, vor allem eine Chance sei.

Mittwoch, 25. Juli 2012

Zielgruppe



Gehörst Du zur Zielgruppe? Für die angebotenen Produkte oder die soziale Revolution? Für Gegenwartskunst und ästhetische Manipulation, Fluxus und Politik? Die letzte Scripted Reality Show, die Weisheit der Sender und Stationen und der Drohnen, die Dich mit chirurgischer Präzision auslöschen können, wenn Du mit Deinem Seitenschneider die Zäune der Schweine- und Geflügelfarmen zerschneidest und in den Kontrollräumen der Produktionsbetriebe Deine liebevoll selbstgebastelten Bomben auslegst, das Brandbeschleunigergel auf die stahlglänzenden Pulte applizierst. 
Ihre Drohnen sind effektiver als Deine Politik der tausend Nadelstiche, als alle Aktionen Deiner vermummten Gruppe. Ihre Nachtsichtgeräte kosten mehr als Dein Auto, ihre Befehle sind klarer als Dein Bewusstsein. Ihr Sender ragen mit tausend Kilowatt in die Welt, ihre zentral gesteuerte Medienpräsenz vermittelt einfachere Weltbilder, deutlichere Botschaften und buntere Farben. Ihr Geld ist frischer gedruckt als Deine Flugblätter, ihre Institute haben die repräsentativeren Umfragen und überzeugenderen Statistiken.
Doch trotz alledem weißt Du, dass ihre Maschine ohne Glaube ist. Dass ihre Maximen nur maximieren. Du sammelst die neuralgischen Punkte, Du wappnest Deinen Verstand gegen die Verblödung und die Strategien ihrer verzinsten Distraktion.
In der weltweiten Totaldiffusion wird es immer schwieriger, den Trennstrich zwischen Dir und ihnen zu ziehen, den Trennstrich zwischen Medium und Botschaft, zwischen Wahrheit und Lüge.
Die Inkommensurabilität der Situation schützt alle mit unklaren Positionen, die Komplexität lässt jeden, der deutlich dafür oder dagegen ist erscheinen als den, der es sich zu einfach macht. Aber nach wie vor gibt es richtig und falsch.
Tatsächlich, denkst Du, ist es gut, zu ihrer Zielgruppe zu gehören. Sie sind ja auch die Deine.

Donnerstag, 12. Juli 2012

Toilette des Grauens

Bis eben hab ich ja geglaubt, die schrecklichsten Toiletten seien jene am Bockenheimer Campus der Frankfurter Goethe-Universität, aber dieser Kurzfilm hat mich dann doch davon überzeugt, dass es immer noch schlimmer geht.

Mittwoch, 11. Juli 2012

Google Statistics: Search Request


Im Folgenden einige der Suchbegriffskombinationen, über die man in den letzten Monaten auf diese Seite gestoßen ist. Klingt wie eine Reizwort-Schreibaufgabe fürs Kreative Schreiben und ergäbe vielleicht eine ganz hübsche Geschichte :-)

Kaffee Wahrheit Spinnen Koffein
Anti-Schlaf-Aparillos
Größter Tunnel Ohr
Um null Uhr schnappt die Falle zu
Engel machen Terroristen kalt
Alte Brunnen aus Holz
Tiger liegend
Auf dem Meer treiben
Die beste Art sich zu wehren, ist sich nicht anpassen
Grauer Vogel mit schwarzem Kopfhaar
Pflanzen öffnen sich morgens und schließen sich abends
Fotografie im alten Steinbruch mit jungem Mädchen
Heimlich gepupst
Fernsteuerbare Fische
Alte Truhe alte Mauer
Dunkle Gasse Bleistift
Wittgenstein Leiter
Leckt mich doch alle
100 Arten in den Wald zu scheißen
Beschleunigung Medien Vielfalt
Chirurgisch Herz
Ja natürlich Schweinchen
Brutaler Stuhlgang
Kubricks Würfel Kreise
Paula Facebook Fick
Toter ohne Kopf
Arbeiten kaufen sterben
Gesellschaft Dressur
Altes Fünfmarkstück
Schlafmohn Blätter
Falsches Spiegelbild
Totenmaske
Wurzel mit Schubladen
Nekrophilie tatsächliche Fälle
Teufelshörner mit Photoshop
Wir Deutschen fürchten Gott, sonst nichts auf der Welt
Salafisten mit Messer
Spiegel blind Struktur
Nur Idioten klopfen an die Scheibe

Donnerstag, 5. Juli 2012

Ich geb dir gleich Herrschaft der Logik, du Drecksack

Am Rande von Wäldern und Ozeanen stehen die Alten und jung Gestorbenen und halten die Hände in die Höhe, formen die Wolken, verteilen die jenseitige Zuwendung ungerecht und doch weise, wenn alle Reiche sich im Machtanspruch vernichten. Was bleibt sind magische Tiere, bizarre Hybriden, die meilenlange Wimpern haben, in denen sich die Zuversicht verfängt. 
Eine Woge spült uns fort, nimmt uns die Luft und lässt uns etwas anderes atmen, wenn die Herzschläge über alte Feldwege holpern bis das Rad bricht und die Worte antworten. Die Zerschlagung des Bewusstseins ist ein hehres Ziel, für uns, die wir keine Ziele haben, weil wir uns der Bewegung überlassen wollen, die nicht aus uns selbst heraus entsteht.
Es geht einmal mehr darum, die andere Seite aufzusuchen, die andere Seite zu bewohnen, unbehaust, und doch ausgestreut wie die Zikaden der Dämmerung oder der Glanz auf einer Paprika, die Händler polieren, denen der Verkauf oder die Schönheit alles sind. Die zahmen Fähigkeiten müssen fallen.
Wenn wir im Schlaf die Wachheit töten und auf Forellen die Flüsse befahren ohne Angst vor dem Tauchgang, dann ergeben sich Verbindungen und verschwinden die Gründe, die nur im Wachen so plausibel erscheinen. Wahnsinnig werden, Illusion werden, Fresken aus eigenem Blut an die Decken malen und nichts mehr sein als ein Nichts in der Imagination eines Riesen, der mit seinen Händen den Flusslauf umlenkt und sich vergisst.

Dienstag, 3. Juli 2012

Auf Reisen

Um kurz nach zwei Uhr nachts auf der A5 Richtung Frankfurt bei Butzbach in einem Stau unüberblickbarer Länge zu stehen, ist sicherlich keine optimale Lage, zumal wenn nach etwa dreißig Minuten ein listig blinkendes Auto vorbei fährt, auf dessen Dach in roten Lettern das verheißungsvolle Wörtchen VOLLSPERRUNG in nachdrücklichen Majuskeln in die abgasgeschwängerte Luft strahlt.
Es hätte alles so frustrierend sein können, wenn aus dem Fond mir nicht eine Pfote das Reisespielset entgegengestreckt hätte, denn, das ist der heutige Sonderfall, die Hündin macht bei mir in Frankfurt Urlaub, sie hatte sich das schon länger überlegt, erzählte mir von der Schwanheimer Main-Düne und dass sie eben jene zu erkunden gedenke, sie außerdem für eine innerstädtische Flanerie bereits in Google Maps eine erbauliche Laufstrecke zwischen den Wohnhäusern der Köpfe der Kritischen Theorie ausbaldowert habe, man wolle schließlich, mit Verlaub, als Hündin von Welt, an dem Teilhaben, was der Mensch (hier wandte sie den Kopf spöttisch ab) allgemein als Bewusstseinsbildung bezeichne.
Aber ich schweife ab. Eben jene Hündin also streckte mir unversehens das Reisespielset meiner Kindertage entgegen und äußerte, dass wir durchaus eine Partie wagen könnten, "Malefitz" oder ihretwegen auch "Mensch ärgere dich nicht", selbst wenn der Titel dieses Spiels speziezistisch sei, ihm also ein unvertretbares soziales Konstrukt zugrunde liege - es sei denn, die Erfinder wären, durchaus nicht unberechtigt in ihren Augen, bereits bei der Konzeption davon ausgegangen, dass der Mensch hier, wie in so vielen Lagen, der Unterlegene sei.
Ich werfe ihr an dieser Stelle wortreich einen animalischen Chauvinismus vor, aber sie will davon nichts hören. Stattdessen wählt sie Schwarz als ihre Farbe, stellt die Spielfiguren auf, würfelt mit einem wohldosierten Pfotenhieb und schaut triumphierend auf die gefallene Sechs.
Als auch ich eben würfeln will, fahren die Wagen bereits wieder zaghaft an. Und es ist wie immer: anstatt zu spielen, haben wir uns in eine schnippische Diskussion verstrickt - aber auch das ist eine Weise, die Zeit zu überbrücken, zwischen Bewegung und Stillstand.

Samstag, 30. Juni 2012

Killing Time

Es ist nicht so sehr die Zeit das Problem, als deren stetiges Vergehen, seit sie allgemein als etwas exakt Quantifizierbares angesehen wird.
Gestern einen Tag lang rückwärts gesprochen, um mich dagegen zu stellen, scheint mir allerdings noch ineffektiver als Schweigen. Versuche mit Schwerkraft, Gitane Maïs und Fluchtgeschwindigkeit des Planeten erfolglos. Bisher maximale Zeitdehnung nur mit sorgsam dosierten Drogen erreicht, hier allerdings stark herabgesetzte Aufmerksamkeit, im Prinzip nur noch Zeiterfahrung, aber nicht deren Verschwinden erreicht. Nach nächtlichem Einbruch in Betriebsgelände unzureichende Annäherung an Lichtgeschwindigkeit im Rückwärtsgang auf der Teststrecke eines hiesigen Automobilkonzerns erfahren. Experimente mit Gin und absoluter Dunkelheit zeigen nur marginal positive Ergebnisse, außerdem leichte Handlungsbehinderung durch totale Finsternis. Kopfstand auf Friedhöfen scheint auch wenig zielführend zu sein.
Für morgen Nacht geplante  Versuchsreihe:  Trampolinspringen unter psychoaktiven Pilzen bei Wiederholung des immer gleichen Satzes, ausgewählte Sprache: Die hochlandostkuschitische Variante Sidama, hat bereits bei früheren Experimenten wertvolle Dienste geleistet. 

Donnerstag, 28. Juni 2012

Sonntag, 24. Juni 2012

Kleines Literaturrätsel (IV) - Wer bin ich?

Nicht allzu lange nachdem die Bomben gefallen waren, wurde ich Chef einer Bande, die wenig Gutes im Sinn hatte. Er war neu bei uns und wir verspotteten ihn wegen seines Namens, nannten ihn nur noch T., damit wir nicht in Lachen ausbrechen mussten. Und ich hätte T. aufhalten können. Er war mir gleich von Anfang an unheimlich. Etwas in ihm war anders.
Später, als wir alle zusammen das Gebäude in Schutt und Asche legten, gab es einen Moment, wo T. uns aufforderte, die Sache zu Ende zu bringen. Sein Blick war unerbittlich und ich verstehe bis heute nicht, wie er unsere Gruppe zu einer Art von Vernichtungsmaschinerie formte, zu einer rasselnden Mechanik die alles zu Staub zermahlte. Ich verstehe auch nicht, warum wir das Geld verbrannten, es nicht einfach behielten und davon liefen.
Ich war Anführer einer Bande, die jetzt nur noch auf T.s Worte hört. Auf seine kalten und ruhigen Worte.

Montag, 11. Juni 2012

the music that they constantly play...

Ganz genau wie ich mir das vorgestellt habe: DJ Schnürschuh legt auf und es ist ziemlich Old School und etwas Detroit, nur noch deeper.
Apropos DJ Schnürschuh: habe gesehen, wie er angekommen ist mit seinen Plattenkoffern und Turntables. Er fährt einen Bulli, den er wie einen Tiger angemalt hat (vorne hat er doch tatsächlich aus alten Kabeln noch ein paar Schnurrhaare angeklebt) und hinten drin ist so eine Spielwiese aus bräunlichen Cordkissen, falls er, wie er formuliert, „willfährige Bitches abgreifen“ kann. Seinen Tigerbulli nennt er deswegen in Abwesenheit von Damen (und meiner Meinung nach reichlich prosaisch!) gerne die Bumsburg. – Nicht, dass ihr jetzt glaubt, ich würde DJ Schnürschuh besser kennen, nein, er erzählt das gerne jedem, der nicht bei 5 auf den Bäumen ist.
Auf jeden Fall spielt er Cybotrons Alleys of you Mind und was von Blake Baxter oder Octave One. Das ist jetzt nicht so ganz meine Musik, aber die Bude ist ziemlich abgedunkelt, wir haben alle was Buntes im Glas und einer improvisiert auf seiner Sitar dazu, bis wir unisono überzeugt sind: das ist der Sound der Zukunft. Wir trinken aus neuen Gläsern andere bunte Sachen und essen Früchte, die in Wodka oder Absinth oder was auch immer eingelegt waren. Das schmeckt uns irgendwie. Verdammt, ja, und es zeigt auch Wirkung: Existenzielle Wesensmerkmale wie Faulheit und Muße kristallisieren sich aus der um sich greifenden Entschleunigungstaktik und einer schreit, kaum mehr bei Sinnen: "Durch die Nacht, die mich umfangen, blickt zu mir der Töne Licht." Die Sache war die: es ging uns nicht allzu schlecht.
DJ Schnürschuh fummelt sich unterdessen ein Mash up zusammen aus 'nem Stück von Underground Resistance und irgend einem symphonischen Tribal-Zeug, stapelt Loop auf Loop und Fläche auf Fläche – wirklich keine Ahnung, was das werden soll, wenns fertig ist.
Als es dann fertig ist, ist das ein ganz versponnener Track, der so richtig endlos mitten hinein in das Bewusstsein fährt, wie eine alte Dampflok, nur deeper, und gleichzeitig so eine Gemütlichkeit und ein Lass-dich-mal-reinfallen ausstrahlt, wie ein altes geliebtes Sofa, das man vor dem Sperrmüll gerettet hat, wo man dann mit seinem Hund zusammen drauf rum liegt und mit dem Fuß wippt und sich mit Fingerfarbe was richtig Nettes ins Gesicht malt. - - Wir erfahren einen Moment totaler Unschuld und ein besonders sensibles Mädel mit grünen Strähnen im Haar vergießt rythmisch ein paar heiße Tränen.
Alles in allem baut der gute alte Schnürschuh uns ein soundiges Zuhause und keiner will mehr weg, bis irgendwer ein Fenster aufmacht und man von draußen die blöden Vögel kreischen hört mit ihrem hektischen „Das-ist-jetzt-dieser-dolle-frische-Morgen“-Ding.
Schnürschuh dreht die rpm was runter und wir segeln auf einer Barke in eine behagliche Sonnenfinsternis, bis ich höre, wie er rumflüstert, wenn die Mädels jetzt müde wären, er hätte da ne total bequeme Liegefläche im Bulli, da wärs auch warm und man könnte es ganz dunkel machen, nein, das bereite ihm keine Umstände, ja, da sei auch Platz für drei.
Na denn, denke ich. Und zum Abschluss läuft, mit abgeregeltem Tempo und total hypnotisch Nine while nine, und Chrissi, ja Chrissi hat auch noch was ganz Leckeres zu rauchen da. Und während er mir mit nonchalanter Geste etwas davon rüber reicht sagt er "Die gesellschaftliche Wirklichkeit hat mit dieser Nacht absolut nichts zu tun, leider."

Mittwoch, 6. Juni 2012

Ja, ist denn schon Weihnachten?


Die neue französische Regierung unter François Hollande zieht den vor der Wahl vorgestellten Plan anscheinend durch. Erster Schritt: die Kürzung der eigenen Gehälter um 30%, damit verdient Hollande 70.000 € weniger als Sarkozy. Aber es kommt noch besser: zum Juli wird es einen Erlass geben, der die Spitzengehälter von Managern und Führungskräften der Staatsbetriebe und der Betriebe mit vorwiegend staatlicher Beteiligung begrenzt - und zwar auf das Zwanzigfache des niedrigsten gezahlten Lohns im jeweiligen Unternehmen.
Wo kämen wir denn da hin, wenn das Gehalt des Chefs an das eines einfachen Fließbandarbeiters gebunden wäre? Unverschämt, meinen Arbeitgeberverbände und verschiedene Konzernspitzen.
Und wie geht's weiter? Eben lese ich, dass Hollande ein weiteres Versprechen einlöst: Die auf viele Proteste getroffene "Rentenreform", aka Erhöhung des Rentenalters, wird teilweise zurückgenommen. Arbeitnehmer, die mindestens 41 Jahre eingezahlt haben, können wieder mit 60 Jahren in Rente gehen, Erziehungszeit wird stärker als bisher auf die Arbeitszeit angerechnet.
Das Ganze mausert sich allmählich zum handfesten Gegenentwurf zum Sozialabbau anderer EU-Staaten.
Wird das alles so klappen? Ich weiß es nicht. Aber es ist schön, dass es jemand versucht!

Dienstag, 5. Juni 2012

Bricolage exorbitant


Jeden Tag ein neues Kunstwerk, sagt der Vater zum Sohn und baut mit ihm aus einem alten Schuh, einer Miesmuschel, dem Fellbüschel eines Ozelots und etwas Fimo eine Büste von Andreas Baader, die sie mit Strohhut und Sonnenbrille verfeinern.
Das ist mir zu Pop, sagt der Sohn und versteckt das Ungetüm tags darauf beim Geocaching.
Bald basteln die beiden aus 4 Stunden fallendem Regen und 7 Kilo Straßenkreide einen Carport, der sich nicht verstecken muss. Der Vater fährt seinen verbeulten Polo darunter und beide wundern sich doch ein wenig, dass das Teil seinen Zweck ganz gut erfüllt.
Schnell konstruieren sie aus einer nicht unerheblichen Menge Himbeermarmelade, einem Päckchen Vanillinzucker, 28 Holzschrauben, 20 ml Terpentin und ein paar Säcken Blumenerde und Rindenmulch eine Fin-de-Siècle-Stadtvilla, in der sich ganz prima leben lässt.
Bei alledem, sagt der Vater, darfst Du nie vergessen, dass Bohrmaschine und Heißklebepistole die wichtigsten Segnungen der Menschheit sind!
Ich weiß, sagt der Sohn, solange die Gedanken nur kühn genug sind, lässt sich damit alles bewerkstelligen.
Eben!, sagt der Vater, Das ist der magische Idealismus. 
Und, fragt der Sohn, was stellen wir morgen an?
Da sagt der Angesprochene: Denk Dir was aus, wir haben hier noch eine alte Hundeleine, zwölf Quarkspeisen, die Armlehne eines Rattansessels, eine kaputte Uhr und jede Menge Pfandflaschen...

Sonntag, 3. Juni 2012

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Der helle Schlaf in blauem Morgen, eben noch raus an den See, die träumenden Enten erschrecken und mit Kreide Licht auf die Wege malen, vor dem Tagesanbruch weglaufen, die alte Dunkelkammerleuchte bemühen und an einen heißen Julitag denken, an eine Nacht ohne Ende, die man über ein Notizbuch gebeugt in einer staubigen Scheune zu Papier bringt.
Die Schritte und Kinderschuhe mit gebrochenen Sohlen, das Archiv aus lauter Gestern, wo Tage wie Dominosteine Spalier stehen und doch einer heraussticht. Und es gibt Neues und auch Unwiederbringliches, bei dem alle Technologie nichts nützt, die Aufzeichnungen leiser werden, wie durch Jahre verrauschte alte Magnetbänder.
Man trinkt ja aus Prinzip keinen Magenbitter, aber wenn nichts anderes im Haus ist, nun ja, dann könnte man damit vielleicht ein mnemotechnisches Wunder vollbringen, den Gedächtnispalast betreten, die Kette der Augenblicke rekonstruieren, die sich, Herzschlag auf Herzschlag, an dieses unbedingte Gefühl von Abenteuer annähern, welches mir damals, in der Julihitze der alten Waschküche meiner Großeltern im Erinnern den Atem stocken ließ.

Donnerstag, 31. Mai 2012

Keep it real: Klassenkampf reloaded


Die letzten 10 Jahre sahen in Westeuropa mehr Revolten, mehr Aufstände als die 1960er und 1970er. 
Einige Beispiele: 
I. Segregation und Ghettoisierung bleiben in Frankreich nicht ohne Folgen. Ab 2005 brennen die Pariser Banlieus: blind explodierende Gewalt ist der Ausdruck lange schwelender Wut, die auch in mindestens fünfzehn anderen Départements zu Ausschreitungen führt. 
II. Die 2006 beginnenden Revolten um den Erhalt des Ungdomhuset in Kopenhagen ziehen einen Graben durch die Dänische Gesellschaft. 
III. Die griechischen Proteste aus dem Jahr 2008, nach der Erschießung eines 15jährigen durch die Polizei, die sich in Athen zu Demonstrationen mit bis zu 150.000 Teilnehmern auswachsen – dazu ein 48stündiger Generalstreik –,  richten sich gegen die aktuelle Globalisierungs- und Wirtschaftspolitik und eine Gesellschaft die soziale Gerechtigkeit nicht einmal mehr buchstabieren kann. Im Gegenzug präsentieren uns deutsche Medien den „faulen Griechen“, für den wir alle zahlen sollen. Das System Europa braucht immer einen Schuldigen. Und es beruhigt das Prekariat, wenn es – abgelenkt von systemischen Fehlern – den Schuldigen im Fremden erblicken kann. (BILD: „Die Griechen machen unseren Euro kaputt!“)*
IV. Schließlich ab Mai 2011 die Massendemonstrationen in Spanien, 70 Städte sind betroffen, Hunderttausende sind unterwegs gegen eine Politik die Milliarden für die Rettung von Großbanken verbrennt, aber weder in Bildung noch soziale Gerechtigkeit investieren kann. Nach fast zwei Wochen friedlichen Widerstands, räumt die spanische Polizei den Plaza de Cataluna in Barcelona, 120 schwer verletzte Demonstranten sind die Folge. Begründung: Der Platz solle für Reinigungskräfte frei gemacht werden.

Die Natur dieser unterschiedlichen Formen des Aufbegehrens lässt sich nicht vergleichen. Diejenigen, die zum Angriff übergehen, sind keine homogene Gruppe, das Mittel der Gewalt gegen Menschen, egal von welcher Seite, nicht zu rechtfertigen. Doch eine Eskalation funktioniert fast immer nach dem Ping-Pong-Prinzip.
Die Fassade des sozialen Friedens in Europa bekommt Risse. Die westlichen „Demokratien“ können und wollen das Gleichheitsversprechen längst nicht mehr einlösen. In dem Moment, in dem Regierungen nicht mehr für die Regierten stehen, bleibt das staatliche Machtmonopol ohne Legitimation.
Solange sogenannte Volksherrschaften sich aushöhlen lassen und international und weltumspannend operierende Konzerne mehr Macht in sich konzentrieren als gewählte Regierungen, solange der Neoliberalismus über Ethik und Moral erhaben ist, darf sich niemand wundern, wenn die Gewalt schließlich ganz wörtlich vom Volke ausgeht.


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*Welche Hetze hier über Monate planmäßig ausgebreitet wird, ist tatsächlich nur schwer erträglich. Die Verfehlungen deutscher Fiskal- und Finanzpolitik und die Vorwürfe, die diesbezüglich im Ausland erhoben werden, kommen uns im Gegenzug leider nur selten zu Ohren. Ebensogut könnte man behaupten, Deutschland schade der gemeinsamen Währung durch die konsequente Unterschreitung des Inflationszieles und die zugehörige Lohnzurückhaltung. Das würde aber an dieser Stelle wirklich zu weit führen…

Sonntag, 27. Mai 2012

Die Yes Men regeln die Welt

Kreative Möglichkeiten des Widerstands, dargeboten von den Eulenspiegeln der Desinformation. Kommunikationsguerilla und Culture Jamming gegen den Nachrichtenfluss medialer Selbstverstümmelung. Europäische Nachahmungstäter sehr erwünscht!

Freitag, 25. Mai 2012

Credo



Ich glaube an die freie Entfaltung der Märkte,
die uneingeschränkte Warenproduktion und -zirkulation,
die Notwendigkeit der Privatisierung staatlicher Grundversorgung, überall auf der Erde.

Und an den Shareholder Value,
an ewiges Wachstum und Zugewinn,
möglich durch völlige Deregulierung,
geschaffen vom uneingeschränkten Kapitalfluss,
im Rahmen privatwirtschaftlicher Expansion,
die Machtstrukturen installiert, die jede Ethik unnötig macht.

Ich glaube an die Bedingtheit der Gesellschaftsordnung durch die Wirtschaftordnung,
die Verflechtung von Handel, Kapital und Politik,
die grenzenlose Akkumulation der Nettoerträge,
Senkung der Löhne und Lohnnebenkosten
und das System der Banken, die Weltbank und die EZB;
von dort wird das Heil kommen,
zu den ökonomischen Eliten.

Ich glaube an die Wertsteigerung der Fonds,
die heilige Weltwirtschaft,
Gemeinschaft der Lobbyisten,
Maximierung der Gewinne
und das ewige Leben.
Amen.

Montag, 21. Mai 2012

Begriff

"Das scheint mir", sagt Paul, "insgesamt keine gute Idee zu sein."
"Wie jetzt? Was?", fragt Paula.
"Na, jetzt zunächst die Bedeutung der Worte zu definieren, bevor wir die Unterhaltung beginnen. Wie lange soll das denn dauern?"
"Aber wir können uns doch wohl kaum im Ungefähren unterhalten, oder?"
"Jetzt mal ernsthaft. Selbst eine Karte im Maßstab 1:1 gibt das Gebiet immer nur ungenau wieder, solange die Karte eine Karte und nicht das Gebiet selber oder eine absolut identische Kopie des Gebiets ist.", sagt Paul.
Da sagt Paula: "Ich schlage als einzig mögliche gangbare Prämisse vor, zu beschließen, dass wir uns nicht verstehen oder dass es nicht wichtig ist, ob wir uns wirklich verstehen."
"Das ist doch auch", seufzt Paul erleichtert, "tatsächlich nicht wichtig. Wer sich wirklich versteht, hat sich schließlich schon bald nichts mehr zu sagen. Wer sich wirklich erkennt, dem bleibt nichts mehr zu entdecken."
"Ich verstehe", sagt Paula, "ganz genau, was Du meinst!"
Sie schweigen betreten eine Weile. 
Dann sehen sie sich ratlos an.
"Entschuldige bitte", sagt Paula, "das ist mir so rausgerutscht."

Samstag, 19. Mai 2012

kein ereignis des lebens

Manchmal sitzt man am Fenster, starrt in den abendlichen Regen und denkt an Sätze, die man mal gelesen hat, die stimmen und einen auch nicht glücklicher machen.

Die Wirklichkeit ist ganz leicht gegen das Ich verschoben, die Passungsarbeit will nicht gelingen, Inkongruenz.

Man fühlt sich wie so ein kleines Flossentier nach dem Dynamitfischen. Durch die Explosion platzt die Schwimmblase - man treibt ohnmächtig an der Oberfläche der Welt. Und es geht nie mehr zurück in die Tiefe.

Und der Vater von Herr K. sagt leise: "Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist. Weil es das Schweigen über so viele Untaten mit einschließt!"


Donnerstag, 17. Mai 2012

Erkenntnisse des Tages

1. Ein Landtagsabgeordneter in NRW verdient monatlich 10.093 € + Zulagen. Bereits nach 6 Jahren Tätigkeit hat er Anspruch auf 2625 € Altersversorgung.
Andererseits arbeiten 22% aller Vollzeitbeschäftigen in Deutschland für weniger als 8,50 € in der Stunde (= weniger als 1280 € mtl. vor Steuern). Einen bundesweiten Mindestlohn zu beschließen, erscheint dem Arbeitgeberpräsidenten Herrn Hundt vor diesem Hintergrund als ziemlich unnötig. Die Niedriglöhne in anderen Regionen der Welt im Vergleich aufzuführen wäre zynisch.

2. Der neue deutsche Umweltminister Altmaier hat Jura studiert, war im EU-Verfassungskonvent und Parlamentarischer Geschäftsführer seiner Partei. Nur mit einer Sache hat er sich offensichtlich noch nie auseinandergesetzt: Umweltpolitik. Na, herzlichen Glückwunsch und willkommen im Kompetenzteam!

3. Seit 1970 sind mehr als 30% der Arten ausgestorben. In tropischen Regionen ca. 60%. -- Und in Borneo gibt es Bordellbetreiber, die weibliche Orang-Utans - eine der bedrohtesten Tierarten - rasieren, in dunkle Buden sperren, an ein Bett ketten und an arme Freier zur sodomistischen Vergewaltigung vermieten.

Immer weiter so! Das können wir doch noch besser!

Sonntag, 13. Mai 2012

Weltende


Liebe Leute, denkt an den Mayakalender (seit kurzem in der Kritik), 2012, Ende der Zeiten, biblische Plagen, die Apokalypse, Meer aus Blut, die Posauen und Siegel und Schalen – die Zeichen mehren sich.
In Peru treiben aus dem Pazifik seit Monaten täglich hunderte toter Tiere an Land, am letzten Wochenende 1200 tote Pelikane, 900 tote Delfine, es gibt keine Erklärung dafür. Nehmt dazu noch Facebooks selbstverliebt-gierigen Börsengang, die ‚hungrigen‘ Investitionen der Allianz, die griechischen Regierungsbildungsbemühungen, den langsam wahrscheinlicher werdenden Wiedereinzug der FDP in NRW, das plötzliche Versagen des Envisat-Satelliten, den grauen Himmel voller iClouds über den Foxconn-Werken, die „Refinanzierung“ des heiligen Bankensystem durch die Ärmsten der Armen, JP Morgans „Coming out“ als Drecksladen (nicht, dass wir es nicht alle gewusst hätten) – dazu noch die drohende Gratis-Ausgabe der BILD-Zeitung zum Jubiläum faschistischer Papierverschmutzung, dann bleiben wohl keine Fragen offen.
Und was machen wir dann in der post-apokalyptischen Welt? Weiter Geld anlegen, nachmittags die verwaisten Einkaufszentren plündern, chatten, Rasen mähen, soviel verseuchtes Fleisch fressen wie möglich, uns casten lassen für televisionäre Abendunterhaltung  oder doch lieber mit den eigenen Hirnparasiten plaudern?
A propos Hirnparasiten: fast zwei Drittel aller Deutschen, so eine halbwegs aktuelle Studie, haben oder hatten bereits einmal einen Hirnparasiten – Toxoplasma Gondii.
Das ist mitunter ganz praktisch: Versuche haben gezeigt, dass, je nachdem, wo der Parasit residiert, der Wirt die Angst vor verschiedenen äußeren Reizen verliert.
Notiz an den Krisenstab: Bürger weitflächig zum Genuss von Mett oder zum Berühren von Katzenkot auffordern, auf diesem Wege Hirnparasiten installieren, Apokalypse angstfrei genießen. Dazu im Radio: New Dawn Fades.

Montag, 7. Mai 2012

Grundzustände selbstadjungierter Operatoren


Ein Mensch geht gemessenen Schrittes in den Kreinraum, den Raum hinter der Formel, zwischen den Ziffern, den Hilbertraum des Vektorgefängnisses, die weiße Leere, die Schneeverwehung. Als jener verdammt, der die Hand gegen die Liktoren erhob; jener, der nicht zur Einsicht kam.
Die Herrschaftslosigkeit des Zahlenraumes war Teil seiner Berechnung gewesen, die informelle Organisationsstruktur hatte Symmetrien aufgewiesen, die nicht erklärbar waren. Mit dem Ziel der Fundamentalzerlegung hatte er angesetzt - nun war er Gefangener.
Sie jagten ihn durch das Lorentzskalarfeld, dezimierten die Lagrange-Dichte und zirkelten ihn ein, beschimpften ihn als spinloses, massiv geladenes relativistisches Teilchen, doch ihre Klein-Gordon-Rechnung ging nicht auf.
„Ich mache keine Aussagen zur Lösbarkeit des Cauchyproblems!“ – mehr konnten Sie ihm nicht abpressen, das war die maximale Approximation.

Freitag, 4. Mai 2012

Allgemeines Wandern

Sie hatten aus Pflanzen Substanzen extrahiert und konsumiert, aus Kakteen und Mohn und Eiben, sogar aus Gänseblümchen und saftigen Gräsern vom Wegesrand und den weiten Wiesen zu Seiten der blauen Wälder, wo die Bäume sich neigen und rauschen und schweigen.

Dann saßen sie am Feuer beim alten Blechkessel mit dem Kaffeewasser und schauten die Welt:
Rehe lesen beschämt aus historischen Werken verstörende Passagen und stellen Jägern moralische Fragen, die man früher, in älteren Tagen, so gerne verschwieg, als die Sonne noch schief in die Täler schien. Die Büsche und Blumen raunen und staunen im Anblick des Himmels, voll schwarzer Vögel und dunklem Gefieder, das die Sterne verdeckt und die Wolken treiben bis jenseits der Weiden, beim schwarzen Fluss, im finsteren Hain und noch dahinter, von wo ein heiserer Schrei erklingt. Und ein Schatten sammelt Tränen in eichenen Fässern, Gewässer aus Nacht.

Lange schweigen alle. 

Dann sagt einer: Heute ist es gar nicht so lustig wie sonst.

Samstag, 28. April 2012

051610

Es gibt Menschen, die sterben beim Ablesen des Stromzählers, andere verschwinden beim Zigaretten holen auf Nimmerwiedersehen, Dritte verlieren sich im Schlaf, Vierte gehen in die Natur und sprechen mit Insekten und wieder andere kaufen sich homöopathische Mittel und kleine Buddhafiguren, denen sie die Füße mit Nagellack anmalen.
Ich hab aber auch schon von welchen gehört, die sich beim Recken nach einem Buch ganz oben im Regal in Giraffen verwandelt haben und dann gar nicht mehr lesen konnten. Für andere wieder ist jeder Tag wie die Ardennenschlacht und manche glauben, sie hätten nichts zu verlieren, riskieren aber trotzdem nie etwas.
Tatsächlich ist dies ein komischer Planet, der sich so unachtsam im Dunkel dreht, ein krummes, schiefes Ding, ins Nichts gehängt.

Während ich das hier schreibe, sitzt eine mittelgroße Hündin auf meinem Schoß, versperrt mir halb die Sicht auf den Monitor, schaut aus dem Fenster, sieht den vorbeirasenden Polizeifahrzeugen hinterher und gähnt.
"Wußtest du", fragt sie, "daß neugeborene Giraffen bereits nach etwa 45 Minuten laufen können?"
"Nein", sage ich, "Und wie lange brauchen Schakale?"
"Das", sagt sie und wiegt bedächtig den Kopf, "fragst du mal lieber die Araber."

Dienstag, 17. April 2012

Ihr, die ihr eintretet, lasst alle Hoffnung fahren! oder: Mein Sonntag auf der Zeil

Hippe Youngster mit Cowboyhüten und kaum was an tickern Handyromane in ihre Hello-Kitty-beklebten Geräte im Starbucks. Kniende Frauen im Schleier flehen demütig um ein paar Cents. Scharen von Japanern lichten Wurststände ab. Gut gelaunte Salafisten verteilen gratis golden glitzernde Büchlein. Ein völlig verdreckter Einbeiniger rutscht vorm H&M auf dem Boden herum und klappert verzweifelt mit ein paar Münzen in seinem verknickten Tchibo-Becher. Künstler bauen gigantische rauchende Eierskulpturen aus Holzstreben auf und spielen dazu bedrohliche Klänge ab. Vorm Burgerking erbricht sich ein weißhaariger alter Mann mit Basecap. Ein Typ mit Teufelshörnern sprüht "jede versuchung ist das nachgeben wert" an die Wände des U-Bahnschachts. In den Fenstern eines riesigen Juweliergeschäfts liegen ziegenküttelförmige Goldnuggets. Die Leute von Occupy Frankfurt schreien sich hysterisch im Zeltlager vor der EZB an.
Und am Ende kommen Nazis, löffeln genüsslich ihren Pfirsichjoghurt und vergnügen sich in den riesigen Kaufhäusern. Da hängen sie Plakate auf, auf denen Sinniges steht, wie z.B.: „Jugend dient dem Führer. Alle Zehnjährigen in die HJ!“ – Na, Prost Mahlzeit! – Komischerweise war ‚Kopf in den Sand stecken‘ noch nie Teil des Vermummungsverbots.

Freitag, 6. April 2012

Gerettet

Nachts in der Bibliothek
Sitzen Wölfe in den Gängen
Und ich gehe weiter nach hinten
In den Grenzbereich schwindenden Lichts
Wer, sagt einer der Wölfe,
Könnte schon gegen den Tod anschreiben?!
Wir, sagt ein anderer,
Sind der schwarze Limes!

Als ich eben zitternd verzagen will, kommt von hinten mit Schmackes etwas angerauscht und ruft „Keine Angst! Ich bin dein Brillenflughund!“ -- Und ich sage: "Wusste gar nicht, dass es sowas wie Brillenflughunde überhaupt gibt." -- Er darauf und im Vorbeiflug: "Pteropus conspicillatus, genau genommen!" -- Und die Wölfe: "Jetzt hört mal auf mit dem Gelaber, ihr versaut uns die ganze pathetische Jenseitsstimmung."

"Eben!", sagt der Brillenflughund, fliegt eine liegende Acht in die Luft – und die Macht des Todes ist gebrochen. -- "Dann", sage ich, "können wir ja jetzt endlich ´nen Kaffee trinken gehen."
"Auf ein paar Fruchtsamen und einen Fingerhut Wasser würde ich schon mitkommen.", sagt der Brillenflughund, setzt sich auf meine Schulter und wir gehen. Die verdutzen Wölfe schauen uns nach.

Donnerstag, 29. März 2012

Happy Days

Krieg der Freiheit! Individualität ist Gleichheit. Konformität ist Rebellion. Wille ist Begehren ohne Bewusstsein der Produktionsprozesse und: heiter ist die Kunst, ästhetisch die Politik, die beste Fiktion von allen.
Schnell ein Doodle geschaltet: Man hat die Wahl, aber würden Wahlen was ändern, wären sie illegal. Doch wir bleiben im Recht, auf dem Boden des Rechts, der Rechtstaatlichkeit. Es bleibt die Wahl zwischen Schuh und Frisur, mehr wäre gegen die menschliche Natur.
So behaglich in den Städten voller Angebote, geschützt durch wohlige Verbote. Uns passiert nichts Schlimmes, Überwachung behütet uns, Bedürfnisse bestimmen unsere Bewegung im öffentlichen Raum, die schönen Dinge sind auf unterschiedliche Orte verteilt, und als köstliches Substitut für Macht ordern wir und die Objekte kommen in gelben Lastern aus der Ferne, schnell, bequem. Wie gut es sich leben lässt!
Da ist dumm, wer sich von flacher Subversionsrhetorik in seinem gesunden Konsumentenbewusstsein irritieren lässt. Der angebliche Widerstand will doch auch nur Bücher verkaufen, oder Buttons, CDs, Medien, Clips, Tops und sich in die Genussfähigkeit der popkulturellen Öffnung rammende Gedankendildos. 
Ökonomiekritik ist dumm, lasst uns doch das bisschen Spaß, die besseren Partys, die schnellere Smartphones, die bunteren Apps haben. Ihr infantilen Affen mit euren Waffen. Mit eurem Anti-Pop, der zwei youtube-Clips später echter Pop ist, mit Zuckerguss und Sahne obendrauf. - Geht doch mal richtig shoppen oder ficken, dann geht‘s bestimmt wieder.
Glück ist für uns alle da.

Dienstag, 27. März 2012

Rand der Welt

Sie sagt, dass es ist wie es ist, dass man stirbt, wie man geboren wurde und dazwischen – nichts, nur laufen und ausgleiten und aufstehen und laufen.
Sie sitzt auf einem alten Stuhl, das Gesicht im Halbschatten der weggedrehten Schreibtischlampe, streicht sich die Haare hinters Ohr, schaut in die Nacht, schließt dann die Augen.
Der Wind schüttelt die Bäume, die schwarzen Äste vibrieren, Regen fällt auf die dunkel glänzende Straße.
Und sie spricht weiter: „Heute ist ein Tag, an dem ich vom Tod weiß. Nichts ist leicht. Das Leben fühlt sich an wie ein Beatmungsgerät. Ich wünschte, man würde mich ausstreichen, wie ein falsches Wort auf dem Papier.“
Sie schaut an mir vorbei, in die Leere des Raumes, dann zum Fenster. Draußen wütet ein Sturm, der sich in ihrem Blick spiegelt.

Sonntag, 25. März 2012

Antonio Tabucchi, † 25. März 2012

Ich war mit dir im nächtlichen Indien unterwegs, hab in Porto mit dir getrunken, war dem geköpften Damasceno auf der Spur, beweinte Christus im grünlichen Licht, saß in überfüllten Zugabteilen an deiner Seite und atmete Staub in der schwirrend-heißen Luft verfallener portugiesischer Friedhöfe. Du hast für mich geträumt und halluziniert, hast mir Spinoza und Pessoa vorgelesen, wir haben in Goa und Madras in der Gegenwart unserer Doppelgänger im Abendlicht gesessen.
Heute Nacht stelle ich für dich eine Kerze ins Fenster. Und weine.
Du weißt ja: der Rand des Horizonts ist jener Ort, der in dem Maße flieht, wie wir uns auf ihn zu bewegen.
Ich wünsche dir eine gute Reise!

Mittwoch, 21. März 2012

Es ist mal wieder soweit: die Hündin hat das Wort.

Auf dem Rücken liegend doziert sie, die Beinchen in die Luft gestreckt und hin und wieder strampelnd. Sie erzählt, wie sie Baselitz sieht. Sie erwähnt Schönebeck, das Manifest, die Antikunst. – Sie taucht die rechte Vorderpfote in ein Fässchen mit schwarzer Tinte und streicht über die Leinwand. Sie plant ein Triptychon zu irgend einem Bürgerkrieg. Dazu braucht sie noch Filz und Fett und Zuckerwatte. Sie hat da so ein Beuys-Ding am Start, glaube ich. Ich frage sie ganz direkt nach Beuys und sie sagt, einen Fettstuhl habe sie durchaus auch schon einmal gehabt – das sei nichts, worauf man stolz sein könne, nunja.
Sie spricht von Seele und Ozeanfarben, von einer Kunst, die das Motiv lange hinter sich gelassen habe. Ihr Maßstab für Ästhetik, so sagt sie, sei die größtmögliche Distanz zur Natur. Authentizität halte sie durchaus für etwas Widerliches.
Sie seufzt, leckt sich die Pfote, blinzelt in die Sonne und bedenkt mich mit einem nachsichtigen Blick:
Kunst, sagt sie, ist vor allem eine Geste der Gewalt. Sie verstehe Fontana durchaus, sagt sie, aber ein paar Schnitte seien nicht genug, um in die Tiefe des Bildes einzudringen. Wenn ein Schuss die Leinwand zerreißt, sei dies erst ein Anfang, wenn der Richtige hinter der Leinwand gestanden habe, z.B. Meese, dieser vorpubertäre Stümper!
Sie lässt die Vampirzähnchen bei gezogenen Lefzen aufblitzen; so sieht das aus, wenn ich lächele, sagt sie.
Hm, sage ich, ich fand Meese immer ziemlich lustig.
Sie schreibt mit der Pfote auf die Leinwand: „Kunst ist das totalste Totale, die Hirninwendigkeit, die radikalöse, der Tarzan am Hypothalamus, das Erzgebirge der Innerlichkeit, Nordwand des Hasses, der heiligste Faschismus, der sachlichste Wahn der Barmherzigkeit!
Jetzt klingst du aber ziemlich nach Meese, entgegne ich.
Ich, sagt sie mit listig geschwellter Brust, bin die totalste Parodie meesescher Hirnverharzung – wenn ich will!


Samstag, 17. März 2012

Pandämonisches Manifest

Samstags steige ich auf die Ulme, die nur meinetwegen so gewachsen ist, und bestaune die fehlgeleitete Architektur in der Ferne. Bilderpeitsche des Kapitals. Maßlos, die Korrekturbemühungen, die Kunst, aus Graphit und Verfall. - Eisberghaus, Wasserfallhaus, Reihenhaus. Das Material für den Übergang verstopft die Lager.

Dann: Alkohol auf der Seenplatte, Zeitenwende, Entnazifizierung einer Kuhweide und über die alten Idole mit dem Hubschrauber hinwegfliegen. Heute ins Museum, d'accord?

Und Du fragst mich: Woran erkennt man, dass es Kunst ist?

Und ich antworte: Wenn man ein Baby davor setzt, weint es.

Und dann lachen wir wild, schießen auf Plastiken, zünden Bilder an, sprengen das Magazin, fälschen die Signaturen, signieren die Fälschungen, verwüsten die Räume und räumen die Wüste.

Salven und Detonationen hallen von den gläsern spiegelnden Fronten des Bankenviertels wider, Feueratem drückt heiße Luft durch die Straßenschluchten,  goldener Flammenschein streichelt den Fluss. 

Du zwinkerst mir zu und flüsterst verschwörerisch: Wieder ein Tag am Rande der Gesellschaft – aber, hey, zum Glück sind wir bewaffnet!

Freitag, 16. März 2012

Gestern

Indische Flugenten stehen auf dem Campus Spalier
Während ich meinen Kaffee trinke
Die neuen Schuhe klackern auf dem Steinweg
Und ein kleines Mädchen im Feenkleid lacht
Wenig überraschend: Der Entgeltnachweis
Auch gültig als Verdienstbescheinigung
Auf dem Rückweg im Auto mit offenem Fenster
Missmutige Menschen in großen Wagen
Brennende Büros im verblassenden Licht
Dann: Mainspaziergang, Antilopen in der Abendsonne

Dienstag, 13. März 2012

Epitaph für ein armes Schwein

Danke, Marktkauf! Hätte ich nicht ohnehin vor einiger Zeit den Schweinchen den Laufpass gegeben, ihr hättet mich bestimmt überzeugt. Allerdings kann man so ein halbes Schwein ja auch für alle möglichen anderen Sachen nutzen: Schießübungen, Karnevalsmaskierung, als kleinen Erschrecker, zum Schmusen, als "bessere Hälfte" für nekrophile Sodomisten usw.

Aber mal ernsthaft: wie pervers ist eine Welt, in der man für 1,50 € ein Kilo Lebewesen bekommt? Mit Kopf!

Montag, 12. März 2012

Kleines Literaturrätsel (III) - Wer bin ich?

Die Welt ist voller Dinge, die sich zueinander verhalten – und ich war das Ding, was sich anders verhielt.
Ich wurde untersucht - versteht mich nicht falsch, ich war freiwillig gekommen, doch nur um zu erfahren, dass der Defekt vorlag, ich bin „negativ“, offensichtlich veranlagt. – Ich wurde Teil einer Liste.
Nachdem alles vorbei war, sagten sie, ich hätte den Kontakt zur Wirklichkeit verloren, ich sei in einer pathologischen Identifikation gefangen, doch sie waren es schließlich, die mir diesen Namen gaben!
Ich weiß nicht, ob das wirklich der Grund dafür war, dass ich, ganz Mann des Geistes, einige nicht unerhebliche Morde beging. Mit chirurgischer Präzision erledigte ich Sokrates, nahm Kant aus der Welt, vernichtete Descartes, das Schwein. Doch das alles ist mir nicht genug: Shakespeare wartet. Er soll der nächste sein.
Und wer sollte mich auch aufhalten? Ich habe schließlich selbst Zerberus überwunden!

Samstag, 10. März 2012

Ironie des Schicksals

Dies hab ich eben beim Blättern in Genets "Tagebuch eines Diebes" gefunden. Da vor langer Zeit als Gebrauchtbuch erworben, kann ich nicht sagen, wer der Verursacher war, obwohl zu diesem Ende sowieso besser ein anonymer Deus ex machina passt.

Anbei ein eher theoretischer Auszug aus Genets sonst heftig-brutaler, sehr lesenswerter Schrift:
"Diese furchtbare, gefürchtete Ordnung, deren einzelne Elemente ausnahmslos in strengem Zusammenhang untereinander standen, hatte nur einen Sinn: mein Exil. Bis dahin hatte ich ihr heimlich, im Dunkeln, zuwidergehandelt. Nun wagte ich, in sie einzudringen, wagte zu zeigen, dass ich sie angriff, indem ich diejenigen schmähte, die sich ihr fügten. Indem ich mir ein Recht darauf zuerkannte, erkannte ich zugleich meinen Platz im Gefüge."

Doch zurück zur verstorbenen Genet-Leserin, zu deren Ehren ich gerne William Blakes "The Fly" rezitieren möchte:

Little Fly,
Thy summer's play
My thoughtless hand
Has brushed away.

Am not I
A fly like thee?
Or art not thou
A man like me?

For I dance
And drink, and sing,
Till some blind hand
Shall brush my wing.

If thought is life
And strength and breath
And the want
Of thought is death;

Then am I
A happy fly,
If I live,
Or if I die.

Donnerstag, 8. März 2012

Détruire dit-elle

Freiheit finden in der Wahl der Waren, die unser verschwindendes Selbst immer 'authentischer' werden lassen. Die Balance aus Depression und Konsum, die Sublimation in bunten Objekten, in Facebook-Postings und Blogs, die ein zersplittertes Ich weiter als Einheit behaupten sollen, wo gar nichts mehr ist.
Sich in Knechtschaft Dinge wünschen: ein Begehren aufrechterhalten, um nicht aufzubegehren. Nur noch Körper sein zwischen Konsumption und Produktion. Die Machtverhältnisse als Spitze der Nahrungskette und Ende der Warenkette lange internalisiert haben. Im Bewusstsein der ständigen eigenen Sichtbarkeit zugleich Normalität und Alterität produzieren. Den Panoptismus nicht mehr fürchten, sondern genießen, sich in der Unterwerfung einrichten. Mit ihm die Machtstrukturen mechanisch, automatisch, geräuschlos in sich eindringen lassen, bis in die Zusammenhänge der einzelnen Atome des Individuums. Die Überwachung im eigenen Handeln spiegeln. Repressionen unnötig werden lassen und damit paradoxerweise ihre Nichtexistenz beweisen können. 
Partisan und Dissident nur in dem sein, was uns Mode möglich macht. Sich zerstreuen in der Vielfalt der Unterhaltung, der Angebote, der gebotene Möglichkeiten. In schützender Überwachung im Bauch der großen warmen Maschine schlafen.
Fügsam bis zur Nützlichkeit in der Ordnung der selbst organisierenden Systeme, die Ökonomie der Kreisläufe steigern.

Die erzieherische Grenze zwischen Gesundheit und Wahnsinn, die uns allen sagt, wie’s richtig geht. Der psychopathologische Befund, der Anderes und Abweichendes als Krankes behauptet und dann marginalisiert. Das Gesunde zeigt uns die Deckelfolie auf den Joghurtbechern der bescheuerten Bifidus-irgendwas-Milchprodukte: die weißen Rollkragenpullover, die fröhliche Reproduktion, das Lachen in Photoshop.

Wir alle wissen, was Glück ist: die Gesundheit, die Arbeit, der Fleiß, die Kaufkraft, die Bildung, die Abrichtung, die Dressur.

Fuck you!

Dienstag, 6. März 2012

The Doors of Perception

Er klingelt nachts bei mir und flüstert: „Hey, wie sieht‘s aus? Mit Kerouac das Bewusstsein chemisch erweitern, mit Baudelaire den weißen Milchsaft des Schlafmohns trinken oder mit Novalis die schweren Flügel des Gemüts im Opiumrausch heben und des Mandelbaums Wunderöl besingen. Na? Wie wär’s?“

Und mal ehrlich, wer von euch hätte da „Nein“ gesagt?!

Als wir dann unterwegs sind, grummelt er: „Sie haben die Welt zubetoniert und überall die gleichen H&M-Filialen eröffnet, das kann man sich einfach nicht mehr schönsaufen. Es ist doch schlimm genug, dass wir Johnny Cash überlebt haben. An dem Tag hätte man einfach abtreten sollen!“

„Mal ruhig“, sage ich, „Frühlingszeit ist Bastelzeit und wir bauen uns jetzt so eine Art Metro in den Kopf und da steigen wir dann ein und schauen mal, ob da ein Licht am Ende des Tunnels brennt.“

„Alter!“, sagt er, und wieder: „Alter!“ Und dann noch: „Du weißt sowas von Bescheid, Mann!“

Später sitzen wir in der Metro und schauen raus. Es rauscht und blitzt und wir fahren durch Räume voller Dinge und Zustände, in manchen schneit es, in anderen liegt Laub, in einem macht ein Typ einen Kopfstand, der original aussieht wie Bret Easton Ellis, der sich als Holden Caulfield verkleidet hat. Gegenüber flitzt eine Halle voller Französischer ASMP-Lenkwaffen mit TN81 Sprengkopf vorbei, dann brennende Wälder, zwei Strandbars, ein Kino, in dem ein Film von den Marx Brothers läuft, Jane Fonda als Barbarella, die Beerdigung von Maguerite Duras – so geht’s Stunde um Stunde weiter und weiter down the rabbit hole.

Am Ende ist alles ruhig und dunkel, wie ausgeknipst. Die Stille ist so total wie die Abwesenheit jeglichen Lichts. Wir stehen vor einer völlig schwarzen Wand und er sagt: „Jetzt ist es soweit. Setz‘ die Sonnenbrille auf!“

Samstag, 3. März 2012

Kleines Literaturrätsel (II) - Wer bin ich?

Ein spitzer länglicher Metallstab macht seinen Weg durch die Luft, schneller und schneller – und verfehlt nur knapp den einen,  der zwei Vogelarten miteinander verwechselte, bevor er sich aus dem Schlafzimmer stahl. Drei Geschichten erzählt er mir später, und in der letzten der drei spricht endlich der Vogel und gibt sich zu erkennen. War es Mutterliebe oder ein Traum? - das frag ich mich, nachdem er mir von alledem berichtete und sich über den Zusammenhang ausschwieg.
Ich kenne ihn von früher, als wir beinahe noch Kinder waren.

Freitag, 2. März 2012

Eine Fledermaus
Hat sich auf mein Herz gesetzt
Und sich mit den Füßchen verheddert
In all den Datenkabeln, die da liegen
Und ich hab ihr helfen wollen
Zwischen USB und HDMI und Digital Koaxial
sATA und ‘was Proprietärem von meinem komischen MP3-Player
Doch dann stellt sich heraus:
Sie hängt fest mit den Senkeln ihrer batmanmäßigen Schnürstiefelchen
Und die zieht sie aus und flattert und ruft
Barfuß fliegen ist eh viel schöner

Jetzt werdet ihr sagen
Das ist doch Quatsch
Das glauben wir nicht
Doch jeder, der mich besucht
Staunt über die ledernen Stiefelchen
Die so filigran sind
Dass man nicht einmal mit dem kleinen Finger hineinschlüpfen kann

Donnerstag, 1. März 2012

Adbusting, Subvertising, Culture Jamming (II)

Für diejenigen, die das Update im Artikel weiter unten noch nicht bemerkt haben: Neue Entdeckungen an der Adbuster-Front in PB :)




Mittwoch, 29. Februar 2012

Kleines Literaturrätsel (I) - Wer bin ich?

Das ist die Welt, die öde Sonne, die dunkle Gasse, hier von meinem Stuhl aus; kann mich nicht bewegen, doch was hält mich? Sind das Stricke? Oder Schatten von Stricken? Oder Schals? Verflucht, es sind Schals! Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben Schals! Und der Stuhl ist ein Schaukelstuhl aus feinstem Teakholz. Immerhin.
Es macht Spaß, hier nackt und gefesselt in meinem Stuhl zu sitzen, genauer: es macht meinem Körper Spaß. Und mein Geist? Hm, mein Geist ist eine große Hohlkugel, hermetisch abgeschlossen vom restlichen Universum. Allein, mit meinem Körper hat der Geist zuweilen Austausch, da gehen Wege hin und her. Aber ist das schon Bewusstsein? Na, zumindest reicht es für die Parodie vernünftigen Verhaltens, das nicht aus dem Rahmen potenzieller Seinsweisen eines Körpers in der Welt fällt. Und diese Welt? Die ist doch nur eine heterogene Stimulation. Für mich ist die Zeit gekommen, ja, es ist Zeit, in meinem Geist zu leben.

Weiß: E2-E4

Sonntag, 26. Februar 2012

37.292.862

Laut DIE ZEIT hat die geheimdienstliche Überwachung privaten E-Mail-Verkehrs in Deutschland deutlich zugenommen. Dabei wurden - zitierten Berichten des Parlamentarischen Kontrollgremiums des Bundestages zufolge - im Jahr 2010 insgesamt 37.292.862 Mails nach etwa 2000 Schlüsselwörtern durchsucht und bei Worthäufung kontrolliert. Das ist eine Verfünffachung der Kontrollen im Vergleich zum Vorjahr.
Angeblich waren 213 der Mails als Hinweis dienlich, wobei nicht ersichtlich ist, als Hinweis wofür, denn für diese Verletzung der Privatsphäre unzähliger Bürger wird natürlich nicht tatsächlich Rechenschaft abgelegt. Aber wir alle erinnern uns ja noch an die vielen verhinderten Anschläge in diesem Jahr! Und überhaupt: die totale Bedrohung durch die bösen, bösen Terroristen.

Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird dieser Blogeintrag kontrolliert, wenn ich z.B. erwähne, dass ich nicht plane eine Bombe zu bauen oder mir einen falschen Pass zu beschaffen, weil ein Anschlag natürlich kein probates Mittel zu Bewusstseinsveränderung der Massen ist, wobei ich vielleicht doch größere Mengen Kunstdünger bestellen würde, weil ich überraschend zum Landwirt geworden bin, oder eine große Anzahl Autobatterien, weil sich mein Fuhrpark unvorhergesehen erweitert hat. Eine konspirative Wohnung bräuchte ich allerdings kaum, als potenzieller Einzeltäter. Vielleicht aber eine Rakete oder irgendwas mit Atom.

In verschiedenen Nerd-Foren werden bereits Vorschläge diskutiert, um in Zurückgewinnung der Privatsphäre das System endgültig ins Leere laufen zu lassen: es geht um Auto-Mailer, die wild Stichwortlisten zum Thema Terrorismus versenden, - man kann für sowas ja auch mal ein Bot-Netz einspannen. Kurzum: "Spammt die Überwacher zu!"

Dabei ist eine solche großflächige und prophylaktische Überwachung natürlich sowieso verboten. Das Bundesverfassungsgericht formuliert:

"Die heimliche Infiltration eines informationstechnischen Systems, mittels derer die Nutzung des Systems überwacht und seine Speichermedien ausgelesen werden können, ist verfassungsrechtlich nur zulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut bestehen." (Urteil vom 27.2.2008, 1 BvR 370/07)

Allein: Wie soll man sich wehren, wenn man nicht weiß, dass die eigene Mail "fremdgelesen" wurde? Ein Möglichkeit wäre Transparenz. Man stelle sich vor, einige Mails, die man erhielte, wären mit dem Kommentar versehen: "In Verletzung Ihrer Grundrechte wurde diese Mail von Organen des Bundesamts für Verfassungsschutz analysiert."



Für alle, die glauben, Überwachung produziere Sicherheit, nochmal die wunderbare Erklärung aus Cory Doctorows noch wunderbarerem Buch "Little Brother" (Download hier):

>>Wenn du jemals auf die Schnapsidee kommen solltest, einen automatischen Terrordetektor zu bauen, dann solltest du erst mal eine bestimmte Mathematik-Lektion lernen. Sie heißt „Paradoxon vom Falsch-Positiven“, und sie ist ein Prachtstück.
Nimm an, es gibt diese neue Krankheit, sagen wir, Super-AIDS. Nur einer von einer Million Menschen bekommt Super-AIDS. Du entwickelst einen Test, der eine Genauigkeit von 99 Prozent hat. Damit meine ich, er liefert in 99 Prozent der Fälle das korrekte Ergebnis: „ja“, wenn der Proband infiziert ist, und „nein“, wenn er gesund ist. Dann testest du damit eine Million Leute.
Einer von einer Million Leuten hat Super-AIDS. Und einer von hundert Leuten, die du testest, wird ein „falsch-positives“ Ergebnis generieren – der Test wird ergeben, dass der Proband Super-AIDS hat, obwohl er es in Wahrheit nicht hat. Das nämlich bedeutet „99 Prozent genau“: ein Prozent falsch.
Was ist ein Prozent von einer Million?
1.000.000/100 = 10.000
Einer von einer Million Menschen hat Super-AIDS. Wenn du wahllos eine Million Leute testest, wirst du wahrscheinlich einen echten Fall von Super-AIDS ausfindig machen. Aber dein Test wird nicht genau eine Person als Träger von Super-AIDS identifizieren. Sondern zehntausend Leute.
Dein zu 99 Prozent genauer Test arbeitet also mit einer Ungenauigkeit von 99,99 Prozent.
Das ist das Paradoxon vom Falsch-Positiven. Wenn du etwas wirklich Seltenes finden willst, dann muss die Genauigkeit deines Tests zu der Seltenheit dessen passen, was du suchst. Wenn du auf einen einzelnen Pixel auf deinem Bildschirm zeigen willst, dann ist ein spitzer Bleistift ein guter Zeiger: Die Spitze ist viel kleiner (viel genauer) als die Pixel. Aber die Bleistiftspitze taugt nichts, wenn du auf ein einzelnes Atom in deinem Bildschirm zeigen willst. Dafür brauchst du einen Zeiger – einen Test –, der an der Spitze nur ein Atom groß oder kleiner ist.
Das ist das Paradoxon vom Falsch-Positiven, und mit Terrorismus hängt es wie folgt zusammen: Terroristen sind wirklich selten. In einer 20-Millionen-Stadt wie New York gibt es vielleicht einen oder zwei Terroristen. Vielleicht zehn, allerhöchstens. 10/20.000.000 = 0.00005 Prozent. Ein zwanzigtausendstel Prozent.
Das ist wirklich verdammt selten. Und jetzt denk dir eine Software, die alle Bankdaten, Mautdaten, Nahverkehrs-Daten oder Telefondaten der Stadt durchgrasen kann und mit 99-prozentiger Genauigkeit Terroristen erwischt. In einer Masse von 20 Millionen Leuten wird ein 99 Prozent genauer Test zweihunderttausend Menschen als Terroristen identifizieren. Aber nur zehn davon sind wirklich Terroristen. Um zehn Schurken zu schnappen, muss man also zweihunderttausend Unschuldige rauspicken und unter die Lupe nehmen.
Jetzt kommts: Terrorismus-Tests sind nicht mal annähernd 99 Prozent genau. Eher so was wie 60 Prozent. Manchmal sogar nur 40 Prozent genau. Und all das bedeutete, dass die Heimatschutzbehörde zum Scheitern verdammt war. Sie versuchte, unglaublich seltene Ereignisse – eine Person ist ein Terrorist – mit unpräzisen Systemen zu erkennen.
Kein Wunder, dass wir es schafften, so ein Chaos zu verbreiten.<<

Samstag, 25. Februar 2012

Le stade du miroir

Ich setze mich, sehe aus dem Fenster in den Hof, verfolge mit den Augen die Flugbahnen einzelner Schneeflocken und trinke. Plötzlich scheppert im Flur das Telefon. Vor Schreck verschütte ich meinen Kaffee. Die Stille ist gebrochen und der Nachhall des Bimmelns scheint in verwischten Intervallen aus allen Räumen widerzuklingen. Ich gehe nicht ans Telefon, ich warte bis der Anrufbeantworter sich einschaltet.
Am anderen Ende ist man nicht gewillt zu reden: Aus dem kleinen Lautsprecher dringt nur das leise Rauschen der wortlosen Verbindung. Sie wird mit vernehmlichen Knacken unterbrochen. Während der Anrufbeantworter die unbenutzte Cassette zurückspult, atme ich auf. Gerade als ich die Tasse wieder an den Mund setzen will, läutet das Telefon erneut. Die Maschine zeichnet ein langes Schweigen auf. Eine Weile überlege ich, ob der Hörer beim dritten Anruf von mir abzunehmen sei, doch nichts geschieht. Alles wird wieder zu Stille.
Die Flocken fallen, ich trinke Kaffee, es ist der Anfang von etwas.

Am Nachmittag mache ich mich allein auf den Weg. Immer wieder ziehen Wolken auf. In den Zwischenräumen erscheint die Sonne und wärmt.
Ich betrete eine Telefonzelle und wähle meine eigene Nummer. Nach ein paar Sekunden geht der Anrufbeantworter dran. Meine Stimme aus der Ferne zu hören ist befremdlich, so als sei ich nicht in meinem Körper. Ich spreche nichts auf das Band, schweige und hänge ein. Ich wiederhole das seltsame Spiel noch einmal. Meine Stimme, mein Schweigen. Bis die Automatik die Leitung unterbricht.

Schließlich setzte ich mich in ein Café. Dort bleibe ich vier Stunden. Nichts geschieht. Ich bin enttäuscht, denn ich habe gewartet. Auf mich.

Donnerstag, 23. Februar 2012

Einfache Tage

In einem Haus am kalten Meer. Dort wohnte ich vor Jahren, als man mir noch die Scheiben einwarf und Hiro abends, bedächtig auf der Schwelle liegend, mich vom Schließen der Türe abzuhalten versuchte. Gebrochen klangen die Wellen herüber, als hielten sie in der größten Aufbäumung plötzlich inne, und dieses Spiel wiederholte sich im Handumdrehen.
Morgenluft strich herein und in der Küche dampfte immerzu der Kessel aus mattem Blech, der das kochende Wasser bereithielt.
Niemand wagte zu sagen, daß es kein glückliches Leben war, das wir führten, doch wir hatten uns aneinander gewöhnt, an das Meer, die Geräusche vom morschen Dach und die Eichhörnchen, die in der Rumpelkammer ihre Jungen zur Welt brachten.
Hiro wachte mit scharfem Verstand und schlafend über die Türe zur Veranda, streckte die Pfoten von sich oder legte sich zur Seite, um im Traum einen kurzen Sprint einzulegen, wobei er zappelnd leise Grunzlaute ausstieß.