Freitag, 13. Dezember 2013

Verselbständigte Apparate

Es geht, sagst du, um die Freihandelszone, TTIP, TAFTA, transatlantische Wirtschaftsverschwörung, entfesselte Konzerne, die ihre Interessen viel zu einfach durchdrücken können, die auf Transparenz und Demokratie scheißen. Du zeigst mir geleakte Dokumente und kopierte Schreiben und prophezeist das Schlimmste. Die Privatisierung der Wasserwirtschaft durch Nestlé, Monsantos Saatgutmonopol, den Ausverkauf der Atemluft, das Sterben der letzten kleinen Agrarbetriebe, den ganzen Dreck, den man uns als Nahrung verkaufen will.
Pluralistische Ignoranz, sagst du, ist wohl die einzige mögliche Erklärung, dass hier nicht schon längst die Luft brennt. - Wir sitzen mit rußgeschwärzten Gesichtern und lauschen, wir fragen uns, was zu tun ist.
Du zitierst Dutschkes umständliche Sprache: Wir müssen verunmöglichen, dass die Wirtschaftseliten uns manipulieren. Am liebsten würde ich fragen, was denn bitte "verunmöglichen" für ein Wort ist, aber es geht ja um die Sache, nicht um die Sprache.
Und was willst du jetzt machen? fragt da einer - Irgendwelche EU-Lobbyisten entführen? Doch du schüttelst eifrig den Kopf: Wir müssen es größer angehen, alle relevanten Interessengruppen mit einem Schlag ausschalten.
Auf deiner Powerpoint klickst du eine Liste von genau 52 Gruppen und Organisationen durch. Jeder darf sich eine aussuchen und sich eine Strategie überlegen, sie lahmzulegen, zu sabotieren, zu vernichten, auszulöschen. Du redest dich in Rage.
Da sind ja nur 4 deutsche Organisationen dabei, sagt einer, wie sollen wir das denn alles in den Griff bekommen. Und du sagst ziemlich lapidar: ihr werdet Weltreisende werden! Ihr werdet lernen euch in strukturschwachen Regionen zu verstecken und die Projekt aus dem Hinterland anzuschieben, euch erst im letzten Moment zu zeigen ohne die Deckung jemals ganz fallen zu lassen.
Marighella und so? fragt eine, und du sagst: Nein, das machen wir schon etwas anders, ich geb euch mal die Dossiers rum.
Du verteilst Broschüren und kleine Kochbücher im Fleckhaus-Design und ich bin ganz erstaunt, was man aus einem Labello, Orangensaft, Backpulver und Schwefelsäure für interessante Kommunikationsgeräte basteln kann.
Es bilden sich erste strategische Gruppen und wählen Ziele aus, jemand hackt sich in einen Server und wirft über den Beamer ein paar Texte an die Wand, Informationen rauschen vorbei, die so erschreckend sind, dass selbst den Abgebrühtesten mal kurz der Kaffee aus der Hand fällt. Und je mehr wir begreifen, welchen kranken Plan man da verfolgt und wie er uns alle zu entmachten droht, umso eifriger werden unsere Bemühungen.
Wir müssen, sagst du, angreifen, und zwar so hart und effektiv wie wir nur eben können.

Weiter informieren:
http://www.monde-diplomatique.de/pm/2013/11/08.mondeText1.artikel,a0003.idx,0
http://www.youtube.com/watch?v=k5BsryfIxaE
http://www.youtube.com/watch?v=AqWHV6xRtHY

Freitag, 20. September 2013

Wandel wertbezogener Postulate

Der alte Beamte hatte Maßnahmen ergreifen wollen zur Erhaltung der Lebenslust der Verurteilten:
Mit flinker Zunge schnalzend überlegte er sich, Apfelkerne zu pflanzen in die Augenhöhlen der Mörder, Lilien in die Hände der Diebe, Astern in die Münder der Lügner.
Die grollenden Wachhunde sollten Halsketten aus Gänseblümchen tragen und Malvenduft würde den Schweiß der Angst überdecken. Ins Meer hieb er Gruben, die das Dunkel der Nacht schlucken sollten, ersann mechanische Spinnen, die den Faden des Schicksals rückwärts spinnen konnten. Er verbot Hähnen den Morgenschrei und trainierte sie im Erzählen von Anekdoten und Bonmots. Grell schminkte er schwermütige Affen, er malte der Zukunft goldene Fliegenaugen und briet Tauben im Wachturm.
Doch als der erste der Verurteilten lachte, schoss er ihm mit Leidenschaft von hinten durchs Genick. Und schmunzelte leise.

Mittwoch, 4. September 2013

Maeterlincks Erlebnis

Maurice Maeterlinck machte als Kind von neun Jahren in einer erhitzten südfranzösischen Nacht, hastig atmend im Bett seines dunklen Kinderzimmers, eine irritierende Erfahrung:
Es träumte ihm, ein Schmetterling setzte sich auf seinen Mund und wüchse in wenigen Sekunden auf die Größe seines Dreiradsattels an, während er sich gleichzeitig mit seinen Widerhakenbeinchen so sehr an seinen Lippen festhielt, dass der Junge sie nicht mehr öffnen konnte. Bald klammerte sich das Insekt auch übermütig an seine Nase. So war ihm Sprache und Atem verwehrt. Zunächst hörte er noch, dass seine Eltern in der Stube umhergingen, doch er konnte sich ihnen nicht verständlich machen. Zwei ekelhaft flauschige Motten krochen alsbald in seine Gehörgänge, bis er nur noch das innerliche Pumpen seines eigenen kleinen Herzens hörte. In wilder Angst blickte er umher und sah eben noch, wie zwei große Schaben sich über seine Augenhöhlen schoben, bevor sich das schattige Zimmer vollkommen verdunkelte. 
Als er begann, wild um sich zu schlagen, sich aber nicht befreien konnte, kam seine Mutter, von den dumpfen Schlägen angelockt, besorgt in das Zimmer und machte Licht.
Mit geübten behutsamen Griffen nahm Sie die Insekten eines nach dem anderen von Ihrem Sohn und steckte sie in einen mitgebrachten Sack, wischte ihm abschließend mit einem feuchten Tuch über das Gesicht und sagte leise: Nur ruhig meine Junge, das ist alles nur ein Traum.

Dienstag, 6. August 2013

47

Er sagt: Ich weiß wovon ich rede. Ich hab die Gruppe 47 beim kollektiven Wackelpuddingessen erwischt!
Ich: Waldmeister oder das Rote?
Er: Ist doch scheißegal. Das war doch nur so eine Redensart!
Ich: Noch nie gehört.
Er: Ach, leck mich doch. Ich glaub Zitrone!
Ich: Warum sollte dieser pseudoelitäre Scheißhaufen Wackelpudding essen?
Er: Was weiß ich. Es war halt so!
Ich: Böll hasste Wackelpudding.
Er: Der Richter hatte ja auch Wodka reingekippt.
Ich: Ach so, ja dann kann ich mir das schon vorstellen. Wie eine Herde Brüllaffen unter Schnaps.
Er: Was hast du denn gegen die? War doch ne schnieke Sache.
Ich: Also hör mal, etwas, das Arno Schmidt zu doof war, kann doch eigentlich nichts sein.
Er: Aber Arno war doch der Unausstehlichste von allen.
Ich: Na, dann geh doch deinen tollen Uwe Johnson lesen, du Superhirn, du!

sprachs
ging
trank

Donnerstag, 1. August 2013

Autopoiesis

Das staatliche Gewaltmonopol war uns suspekt, doch wir verharrten im Notstand. Wir lasen Marcuse und missverstanden ihn, wir wollten ihn missverstehen. Sartre sprach klarer. Unserer Meinung nach hing Adorno im Elfenbeinturm rum, wie ein Zombie am Glockenseil. Horkheimer war einer dieser Besserdenker, der die Kritische Theorie in einem Büro in Frankfurt säuberlich polierte.
Idealismus ohne Praxis, der nicht zur Umsetzung drängt, war für uns verdächtig. Primat der Aktion und taktische Gewalt kam uns nicht unnütz vor.
Doch es gab keine Ideologie mehr, die wir angreifen konnten, sie war bereits unsichtbar herabgesunken in unsere Art die Waren zu begehren, die Arbeit zu leisten, die Verhältnisse zu leben. Warum sonst blieben die großen Revolutionen aus? Es gab keinen benennbaren Verblendungszusammenhang mehr. Die Prozeduren des Alltags waren so evident, dass sie unhinterfragbar geworden waren. Die Strukturen lagen offen zutage, wir mühten uns vergeblich, sie noch transparenter zu machen: sie waren längst über die Ermüdung der Massen gewachsen.
Die Allgemeinheit formte die Umstände, sie wurde nicht mehr geformt; die laue Zufriedenheit wies darauf hin, dass Huxley der Wahrheit viel näher gekommen war als Orwell.
Wir bemängelten das schwindende Klassenbewusstsein, sahen sogar das Bewusstsein überhaupt in Auflösung. Die Schaffung von Mehrwert ging auf Kosten Vieler. Wir dürsteten nach einer Theorie, die alles umfasste, die unsere Aktionen stützte und deren Elemente wir in den Setzkasten unseres Kopfes integrieren konnten.
Wir fühlten den ekelhaft prosperierenden Spätkapitalismus, der rhizomatisch unsere Familienstammbäume durchwucherte.  Wir fürchteten sein Belohnungssystem zu verlieren, wenn wir etwas unternahmen, endgültig herauszufallen aus den sich beschleunigenden Zyklen von Produktion und Konsumption.
Der Gesamtzusammenhang, so sagten wir uns, ist das Falsche, das Unwahre, das allgemein Anerkannte. Das zur Totalität tendierende gesellschaftliche System durchdrang Ökonomie, Politik und Kultur und wurde zur Apparatur genussvoll vollzogener Anpassungen.
Und doch träumen wir jede Nacht von der Entfaltung der Widersprüche und Konflikte.
Aus unruhigem Schlaf schrecken wir auf.
Mit der Faust unterm Kissen.

Montag, 22. Juli 2013

Sachzwang

Mein Nachbar sieht aus wie Marcel Duchamp.
Ich warte, bis er fort geht und breche bei ihm ein. Ich fotografiere sein Geschirr, seine gemusterten Stofftaschentücher und seine Arztrechnung.
Es ist kühl in der Wohnung, in einem Zimmer liegt auf dem Tisch ein Buch mit einem Einschussloch und Marmeladenspuren am Einband (Heidelbeere, mit Sicherheit).
Im Keller finden sich alte Reifen und ein an die Wand genageltes, völlig vertrocknetes Rosinenbrot. Ich gehe umher und verhalte mich wie jemand, der mich auf einer Bühne spielt - bedacht und unnatürlich. Ich fotografiere mich mit Selbstauslöser - 12 Sekunden aufgeregtes Atmen im stillen Dunkel - neben dem Rosinenbrot und lächele in die Kamera. Auf dem Foto werde ich mich später nicht wiedererkennen.
Als ich das Haus verlasse, verschwindet die Straße, Rue de Grenelle, von allen Stadtplänen.
Was in der Nacht noch geschah:
Schwimmunterricht, ein verlorenes Schachspiel, mäßiges Durstgefühl und der Entwurf eines gigantischen Kerkers.

Freitag, 17. Mai 2013

15 Instruktionen für einen freien Sonntag

01. Versuche etwas zu verlieren. Vermeide Absicht!
02. Male etwas, das Du noch auf keinem Bild gesehen hast.
03. Drücke Deinen Kopf wie ein frisches Brot.
04. Wachse über Nacht um 3 Millimeter.
05. Fotografiere Deinen Atem.
06. Sprich mit einem Vogel. Achtung: Rotkehlchen und Raben sind die besten Gesprächspartner.
07. Forme Kraft Deiner Gedanken eine Wolke zu einem konkreten Objekt um. Steck das Objekt in die Tasche.
08. Lasse etwas Gefangenes frei. Zerstöre den Käfig.
09. Verstecke etwas Obskures in der Wohnung eines Freundes. Erzähle niemandem davon.
10. Fange einen Windstoß in einem Glas. Lasse ihn in Deinem Zimmer wieder frei.
11. Finde eine Nase, die Deiner eigenen ähnlich sieht. Drücke Deine behutsam dagegen.
12. Vertausche in Deiner Wohnung die Position zweier Objekte, die Du oft benutzt.
13. Lehne die Realität als obszön ab.
14. Tauche im Traum eines Freundes auf.
15. Besinne Dich.


Montag, 29. April 2013

Eure Denke

Was denken die sich nur?!...

setzen halb rasierte Katzen auf Glastische und filmen sie von unten für ihren total witzigen Youtube-Kanal

tätowieren sich vergnüglich-esoterische Sinnsprüche aus dem Kleinen Prinzen aufs Skrotum

lesen Kindern mit Zahnspange Jandls "Schtzgrbn" zehn Mal in Folge zum Einschlafen vor

versuchen auf Midazolam die Braille-Botschaft der Rauhfasertapete zu lesen

schlagen hinterrücks Maulwürfe tot und beerdigen Sie in den eigenen Erdhäufchen

nehmen drei Mal täglich fünfundsiebzig Milligramm Venlafaxin und glotzen dann angstzitternd Martyrs

stecken nervösen Reisfeldratten im Zoo zerfledderte Ausgaben von Mille Plateaux zu

fahren eintausenfünfhundertunddrei Kilometer um mit Lourdes-Wasser geweihte Unterhosen zu kaufen

und sagen zu mir:
"Na, Sie haben aber ne Denke!"

Donnerstag, 18. April 2013

Garten der (un)erwünschten Worte

Einige Worte, die ich nie mehr hören oder lesen möchte:

Dispositiv, awesome, Lifestyle, Fashion, Richard David Precht, Primark, Bachelor/BA, Master, Personality, Akkreditierung, Hochbegabung, Rahmenbedingungen, Monetarisierung, Richtwert, diskursiv, Prekariat

Einige Worte, die ich gern mal wieder (öfter) wo lesen oder hören würde:

Heidelbeerpfannkuchen, Sommerfell, Fennek, Soubrette, Bilanz-Suizid, behutsam, Trapezoeder, Ritornell, Fröschin, Murmelbahn, Himbeerbubi, Siebensachen, Bilsenkraut, Flughund, Wechselbalg, Renommierband, saumselig, Scharmützel

Eure Vorschläge zu dieser Liste!?

Montag, 15. April 2013

Wir waren...


Wir waren Rocklegenden! Untergrundkämpfer! Rädelsführer! Magisterstudenten! Orchesterleiter! Straßenkämpfer! Teilchenbeschleuniger! Fraktaltangenten! Potenzgiganten! Tarnkappenbomber! Sternenzerstörer! Tierbefreier! Bombenleger! Weiterdenker! Morgenschläfer! Sonnenanbeter! Brandstifter! Eisbrecher! Harnischträger! Vernunftverweigerer! Bilderstürmer! Lichtbringer! Revolutionäre! Prozesszersplitterer! Mauernsprenger! Blitzmerker! Arcadespieler! Lautersteller! Titanenforderer! Transzendentalreisende! Kernfusionexperten! Experimentalphysiker! Märtyrer! Tischtennischampions! Rudimentalverbieger! Kontinentalkinetiker! Hungerkünstler! Feinschmecker! Datenschützer! Poesieeuphoriker! Welteinsturzmelancholiker! Religionskritiker! Rosenkreuzer! Kreuzritter! Testamentsvollstrecker!  Leistungsträger! Arbeitsverweigerer! Tatortreiniger! Kulturkritiker! Apokalypsenbeschwörer! Brandherde!
Gefangene unserer Triebe!
Aggregatzustände der Hoffnung!
Phantomschmerzen der Liebe!
Mätressen des Wahnsinns!
Traumata des Versagens!
Horizonte der Eklipse!
Trabanten unseres Wortschatzes!
Giganten der Langsamkeit!
Raben der Erinnerung!
Entzifferer des Palimpsests!
Zuneigetrinker des Grals!
Manichäer der Einsilbigkeit!
Selenografen der Tristesse!
Sterbliche!
Menschen!
Und wir sind es noch heute!

Mittwoch, 10. April 2013

Dressed for success

Heute Nacht in einem Wohnwagen im dänischen Hinterland Weltrevolution geplant. Achtundsiebzig Seiten Aufzeichnungen zur Umverteilung von Produktionsmitteln, Waren und Reichtum, Verhinderung spezifischer Kapitalflüsse. 
Für die Aktion "Hagbard Celine" neun Programmierer angefragt, alte Fabrikhalle angemietet, Glasfaserbreitbandinternetanschluss online beantragt. Das Xetra-System mittelfristig auszuschalten, sollte keine Schwierigkeit darstellen!
Einzelne Projekte und Roadmaps erstellt, erste Konzepte zur Unterbrechung und Unterbindung von privaten Fernsehen- und Radioprogrammen. Berechnung vektoriell magnetischer Feldgrößen zur Konstruktion des großen Realitätsverbiegers angestellt. 
Auf YouTube narrensichere Anleitungsvideos für DoS- bzw. DDoS-Attacken eingestellt, Bauanleitung für Datenjammer gepostet,  Webcrawler ausgeschickt, Kommunikationsstrategie ausgearbeitet, Bot-Netz fürs Wochenende gemietet.
Als erster Arbeitsschritt einen acht Punkte-Plan zur zielgerichteten Identifikation der Massen mit dem Unternehmen skizziert, kleine Holzmindener Werbeagentur mit Logodesign beauftragt.
Dazu im Repeat 8 Stunden Pinky and the Brain, Titelsong.
Und plötzlich wenden sich Pinky und Brain aus dem Bildschirm an mich und fragen: „Ist das jetzt eine kritische Phase in der Geschichte?“ Und ich sage zu ihnen: „Wollen wir es hoffen!“

Sonntag, 31. März 2013

Kleines Literaturrätsel (VI) - Wer bin ich?

So mancher im Büro redet hinter meinem Rücken, getrieben vom Neid auf meine bessere Anstellung – denn wer wäre nicht gern verbeamtet? Man trägt die feinere Kleidung, drückt sich gewählter aus und lupft den Hut im Vorübergehen.
Auf der Straße schau ich auch mal den Damen hinterher, wie eben erst einem besonders entzückenden Kind, das eine - man mag es kaum glauben -  sprechende Hündin besitzt, die über einen erheblichen Wortschatz gebietet. 
Das habe ich später umso mehr gedacht, als ich einen Briefwechsel eben jener Hündin an mich brachte, worin ich fand, dass dieses Tier nicht nur etwas von Politik verstand, sondern auch so manches französische Wort benutzte – obwohl man doch an der Schrift erkannte, dass hier nicht die Hand, sondern eine Pfote die Feder geführt haben musste.
Einige Tage später, aber wieviele Tage sind es eigentlich und in welchem Jahr befinde ich mich?, fällt es mir immer schwerer, meiner gewöhnlichen Arbeit nachzugehen, da ich mich nicht mehr zu den Bürgerlichen zähle. Wie kann das den Menschen nur verborgen bleiben? Sie bleiben kaum stehen, wenn ich vorbeigehe. Sehen sie mich denn nicht? Begreifen sie denn nicht, wer ich bin?
Außerdem plagen mich alle Tage zwei Fragen: Warum diese Duschen mit Eiswasser? Und: Wie reise ich möglichst schnell ein paar tausend Kilometer Richtung Südwesten?

Samstag, 23. März 2013

Der rechte Augenblick

Von den Terrassen der Cafés klingen metallisch die Stimmen
Und eifrige Raben stehlen Gästen das Gebäck von den Untertassen
Traurige Passanten spucken auf die Gleise der Straßenbahn
Während die Oberleitungen von fernen Trafostationen singen
Ich stehe mit einem Buch unterm Arm am Tiergarten
und warte auf den Regen
Als ich dich sehe, mit dem gleichen Buch vor der Nase
Einem Zinkfüller am Revers und dunkelblauem Hut
Wie du dich abwendest und über einen Tautropfen sinnst
Der heute früh aus dem Kelch einer kühlen Blume in deine Hand fiel.

Dienstag, 19. März 2013

Betula incognito


Wildes Treiben auf dem Bahnsteig. Durchsagen und Blicke fliegen durch die kühle Luft. Der Russe mit der Waschbärmütze ist eben aus dem Zug gestiegen und bleibt vor mir stehen:
-Sind Sie nicht diese Birke? fragt er
-Birke? Ich?
-Ja, diese Birke, die früher vorm Fenster meines Kinderzimmers stand? Mein Lieblingsbaum und Schattenspender!
-Sehe ich denn aus wie ein Baum?
-Ähm, jetzt, wo Sie’s sagen, naja, hm, aber irgendwie...schon…
Sein Atem riecht leicht nach Schnaps und offensichtlich sind ihm seine Worte mittlerweile ein wenig unangenehm. Er errötet und räuspert sich, sagt „entschuldigen Sie“, dreht sich rasch auf dem Absatz um und geht davon.
Als ich am Tag darauf, auf der Wiese stehend, die Arme weit in den Himmel gereckt, sonnenfleckige Schattenmuster an die Hauswand male, frage ich mich ganz kurz: wie hat er mich nur erkennen können? Ich hatte doch einen Mantel an… und Schuhe, dazu ein T-Shirt und sogar eine alberne Basecap.
Ich runzele die Rinde. Es bleibt mir ein Rätsel.

Montag, 11. März 2013

Kleines Literaturrätsel (V) - Wer bin ich?


Es ist schon eine Art kurzer Amoklauf mitten in der Flora eines hübschen Waldgebietes, was ich, schwitzend in meinem schwarzen Anzug, hier veranstalte. Eine Krankheit der Moderne, eine Überspanntheit der stadtgewohnten Nerven, ein Anflug von Neurasthenie, die schließlich zu verwirrender Selbstbeobachtung führt. Und? Was sehe ich? Mich selbst, wie ich ein Geschöpf köpfe, dessen Blut den Boden besudelt und dessen abgeschlagenes Haupt ein befremdliches Eigenleben entwickelt.
Es war ein kalter Mord, soviel weiß ich selbst, und grübele über die Möglichkeit, eine solch offensichtliche Leiche zu eskamotieren. Gleichwohl verweigere ich die Buße, verfalle dann aber auf die irrsinnige Idee, dem Kadaver neuerlich Leben einzuhauchen. Doch zu spät: bleibt nur die Flucht – und am Rande des Weges stehen finstere Gestalten, von denen manche weinen und andere nach mir greifen.
Zurück daheim finden meine Gedanken keine Ruhe, die Tote umtreibt mich, verdreht mein Gehirn für lange Zeit, entfacht in mir einen verqueren Totenkult, bis ich schließlich, viel später, zurückkehre an den Ort meiner Tat, um weiter und noch mehr zu morden. Und ich lache – na bitte, es geht doch!

Sonntag, 3. März 2013

Mahnung


Trau nicht den Männern mit den schwarzen Hüten
Erst gestern sah ich einen
Der ein Säugetier verspeiste
In ein Kinderbuch pisste
Und einen Tautropfen zertrat
Trau nicht den Männern mit den schwarzen Hüten
Sie erschlagen Marienkäfer
Mit Hauptstadttelefonbüchern
Bleiwinkelrohren
Und Eisenbahnschienen
Trau nicht den Männern mit den schwarzen Hüten
Sie handeln
Mit Finanzobligationen
Echthaarperücken
Und Läusemilch
Wenn du einen von ihnen siehst
Zögere nicht
Schlag ihn mausetot
Mit einem Strauß Wasserlilien

Freitag, 15. Februar 2013

Jagdfreie Zeit

Jetzt hört mal, Leute. Ihr müsst auch mal die Waffe aus der Hand legen, mal keine Bombenkochbücher downloaden und keine Zündkapseln an Lichtschranken anschließen. Einfach mal die Brandsätze ins Schaumstofffutter der kleinen Koffer zurücklegen, die ihr immer so auffällig um die Fundamente der Hochhäuser bewegt.
Ist schon klar, was ihr wollt und wofür ihr kämpft, aber wie wärs denn mal mit etwas zünftiger Protestlyrik, gerne auch so Rolf-Dieter Brinkmann-Style, oder vielleicht ein Gegenwartsdrama, das den Finger auf die wunde Stelle legt, der Gesellschaft mal so richtig den Spiegel vorhält. Oder was mit Kerzen, Lichterketten und Schweigeminuten, Leserbriefe oder mal ein Streik, aber nicht zu lange. Nicht, dass der Infrastruktur noch die Puste ausgeht.
Oder eine Petition, ein Bürgeraufbegehren, aber bitte nicht übertreiben - es muss alles im Rahmen bleiben - und keine allzu bösen Worte. Protest-T-Shirts sind auch was Feines oder mal einen kleinen Sticker, aber bitte nur an die dafür vorgesehene Stelle kleben, keine Sachbeschädigung riskieren. Man kann ja auch auf den Facebookseiten der großen Konzerne mal was Kritisches schreiben, oder vielleicht was Kritisch-Konstruktives, gleich mal einen Verbesserungsvorschlag posten. Oder andere Konzerne, die irgendwie mehr in die Ethikpromotion investieren liken, aber mal so richtig: inklusive teilen und doppel-liken.
Sublimiert doch mal die ganze scheiß Aggression (am besten im Netz - das Netz schluckt doch alles), so kanns doch nicht weitergehen. Wie wärs denn mal mit ner schicken Videoinstallation zu Transparentmachung hegemonialer oder sonstiger Machtverhältnisse? Oder zur Mythenanalyse? Oder zu geschlechterspezifischen Stereotypen? Einfach mal Bildende Kunst statt Bombe. Pinsel statt Zündschnur, Füller statt Heckler & Koch.
Und jetzt fangt mir nicht an, diesen Kram im öffenlichen Raum zu verteilen, reicht doch schließlich, wenn ihr das in euren Hinterhöfen und Garagen macht!

Dienstag, 12. Februar 2013

Was sollen die Texte nur von uns denken?


Robert Johnson hören in der Bibliothek
Beim Überqueren des Zebrastreifens an Barthes‘  Tod denken
Spiegeleier essen im Collège de France
Dem Brahmanen die Nougatschokolade klauen
Zaghaften Bildhauern Dynamit schenken
Dem Leser die Wahl der Waffen überlassen
Die Tapisserie im Palais Faubourg verachten
Unter der Dusche Bruges-la-Morte lesen
Vom Verkehr umströmt, inmitten der Kreuzung schreien:
Ich bin Edmont Dantès, Kapitän der Pharao!

Sonntag, 3. Februar 2013

Abwesenheit


Man findet eine alte Brille wieder, die mittlerweile ein nicht mehr ganz scharfes Bild produziert, reibt sich die Augen und schaut stundenlang Fotos von früher an.
Da gibt es Menschen, die nun nicht mehr leben, die man vermisst, schmerzlich vermisst. Deren Verschwinden zum Verdrängten gehört, damit die Tage leichter fallen.
Diese rohe Realität der Fotos haut einem das ganze Gewesen-Sein um die Ohren, das ist keine Simulation: es ist so gewesen. Und in der hellen Kammer tapsen wir umher, zwischen den Zeiten, zwischen alten Kaffeekannen und Porzellanfiltern, Gesichtern, Nächten und Himmeln.
Die Fotografie entblößt jedes Detail, öffnet die Adern der Vergangenheit, produziert eine totale Distanzlosigkeit.
Zwischen alledem, den Bildern der Freunde und Dinge und Orte, erblickt man sich selbst in der Spiegelung einer Scheibe: Schemenhaft halte ich die Kamera, deren Objektiv eine Wirklichkeit verfügbar macht und entzeitlicht. Was Barthes „unbedarfte Kontingenz“ nennt hat die Wucht einer Wahrheit, die in Umrissen wahrnehmbar wird.
Mit Hilfe der Fotografie betreten wir die Ebene des Todes, betreten die Welt des Gewesenen, des nicht Wiederkehrenden, des Unumkehrbaren.
Und doch flüstert die Fotografie auch leise von Auferstehung.
Es ist dieser Schwindel, der so sehr schmerzt.

Freitag, 25. Januar 2013

Wissenswertes für Eltern

Trinken Kinder von 3 Jahren Kirschsaft bei Dunkelheit und Sturm, bekommen sie unproportional große Füße.

Fahren Zehnjährige im Winter bei Ostwind und gleichzeitigem Schneefall mehr als 3 Stunden mit dem Schlitten, verschieben sich die Augenbrauen in Richtung Ohr.

Lässt man Kinder in ihrem siebten Lebensjahr an Gold lecken, mögen sie niemals im Leben Labskaus.

Zeigt man Zweijährigen einen Western in der letzen Aprilwoche, neigen sie später zu Ohrläppchen in der Form von Peru.

Sitzen Vierjährige mehr als 2 Stunden bei Schlagermusik gegen die Fahrtrichtung im Zug, können sie niemals ohne schreckliche Quietschgeräusche an eine Tafel schreiben.

Tunkt man die kleinen Zehen von Fünfjährigen in Nussöl, bekommen sie ein besonders feines Gehör.

Liest man Achtjährigen rückwärts aus dem Buch Deuteronomium vor, werden sie später besonders umsichtige Autofahrer.

Montag, 21. Januar 2013

Meanwhile


Als ich meine Aufzeichnungen vom Vortag noch einmal las, wurde mir klar, dass Kaffee der Grundstein für alles ist.

Ohne Kaffee gibt es nichts zu wollen. Nicht im Mindesten.
Und deswegen brauchen wir einen Kaffee, damit wir einen Gedanken haben, damit wir einen Garanten haben, dass es weitergeht.
Und diesen Kaffee sollte es möglichst pünktlich zum Tagesstart geben – was nicht heißt, dass es nicht auch einen Kaffee zum Ende des Tages, also in der Nacht, geben sollte. Der Nachtkaffee ist ebenso wichtig wie der Morgenkaffee, der ja auch oft erst ein Mittagskaffee ist.

Meanwhile in the Sheraton:
Doctor Jeep plays on and on and on...

Meanwhile in Troja:
Ein Althistoriker treibt die Seinen zu Höchstleistungen an. Alle buddeln in einem verbotenen Gebiet und werden daraufhin festgenommen.

Meanwhile in Paderborn: Ein Ex-Literaturwissenschaftler überlegt, auf seine alten Tage noch Gegenwartsdramatiker zu werden. Er ist naiv. Er ist sich ganz sicher, dass man da eine Menge Geld machen kann. "Da liegt Gold im Drama", flüstert er gedankenverloren.

Meanwhile im Portemonnaie:
Hm, denkt das schwach unterfütterte Geldstück, warum bin ich nie so richtig in den monetären Kreislauf eingetreten, immer nur in Deutschland geblieben, nie durch schwitzige Hände nach Italien gereist, die früher Millionen Lira hielten. Manchmal lag ich ja schon mit einem französichen Zwei-Euro-Stück im Lederbett, das war ein potentes Bürschchen. Und bei den Ärmsten, das weiß das Kleingeld, hat man es im Münzfach am besten. Manchmal wird man zur Glückmünze und tritt aus der Gesichtslosigkeit hinaus, streift die Larve der Uniformität ab – bis schließlich ein Astra Pils mit einem bezahlt wird. Dann lungert man vielleicht die ein oder andere Nacht in einer nach Zigarettenrauch stinkenden Kassenschublade herum und vertreibt sich die Zeit mit ein paar Kupfermünzenaufziehereien. 

Meanwhile meanwhile: Der Kaffee ist fertig!

Samstag, 19. Januar 2013

Licht aus

"Mach das Licht aus, mach es aus, AUS!", schreit er, und dann: "Sie sehen uns, verfluchte Scheiße, sie können uns sehen!"
"Wer jetzt noch gleich?", frage ich etwas verwundert. Schließlich lagen weder Waffen noch Pamphlete auf dem Tisch. Da waren nur zwei Tassen Kräutertee - und es waren noch nicht einmal besonders seltene Kräuter. - Aber sei's drum: ich lösche das Licht und warte auf seine Antwort.
"Du weißt schon: SIE! Mensch, die Mikrofone, da kann ich doch jetzt nicht drüber sprechen, mal ehrlich, das kannst du doch nicht von mir erwarten.", flüstert er in einer Art angestrengt superleisem Brüllton.
"Also Wirklich!", raune ich zurück "Das sind doch nur Gedanken, zerebrale Feuer, neuronale Salven, das kann doch keinen stören."
"Aber was wir so denken", nuschelt er kaum hörbar, "rüttelt doch an den Grundfesten von Glauben, Staat und Fiskalsystem."
"Na, ich weiß nicht!", gebe ich halblaut zweifelnd zurück. 
Er zischt panisch, sieht mich erschreckt an, weist nach draußen in die Nacht.
Und tatsächlich: Am Fenster auf der gegenüber liegenden Straßenseite steht eine Katze mit einem Fernglas an den Augen. Damit nicht genug: später sehe ich im Park zwei Eichhörnchen beim Wegschleppen eines Richtmikrofons, und ein Igel, der mich einige Zeit verfolgt, notiert im Licht eines verwaisten Hauseingangs etwas in ein winziges Büchlein.

Ganz ehrlich, von der Katze hätte ich das vielleicht noch gedacht, aber Eichhörnchen und Igel kamen mir nie wie Denunzianten vor. 

In einem dunklen Zimmer sitzend, trinken wir später nächtens in schwarzer Kleidung schwarzen Kaffee aus schwarzen Tassen - und schweigen. Er hat sich sogar mit Kohle das Gesicht geschwärzt. Soweit wollte ich dann aber doch nicht gehen...

Dienstag, 15. Januar 2013

To Do Liste

Anleitung zur Selbstverwertung schreiben
Auch Weltherrschaft möglich
Und nicht vergessen Schürfrechte zu erwerben
Fast so wichtig wie die Drehgenehmigung
Dann Kerze ins Fenster stellen
(Für verlorene Seelen)
Und Spektralanalyse durchführen
Radiokarbonmethode tuts aber auch
Beim Mangelservice anrufen

Oder doch besser gleich in die Kopfklinik?

Samstag, 12. Januar 2013

Kohelet 1,2-11


Trinkt nur weiter eure Energydrinks, updated täglich eure Facebook-Profilfotos, dokumentiert euer leeres Leben, die ganzen miesen Restaurants und Zerstreuungen, sammelt Freunde im Dutzend, fotografiert eure Outfits und Schminkutensilien, absolviert eure runtastic-Runden. Definiert euch durch das, was die Kaufkraft erlaubt, bloggt euren Sermon, kontrolliert den Pagerank, gebt euren Geräten Namen, beklebt eure Handys mit Symbolen, schaut eure Shows, die neusten 3D-Filme, lest eure schwachsinnigen Bücher voller Pseudo-BDSM, lasst euch die Genitalien piercen, rammelt zu den Melodien der Hitparade, schlürft eure Cocktails im Stehen, steht an hippen, bunt leuchtenden Tischen in Clubs, geht zu kulturwissenschaftlichen Vorträgen, redet was von Sublimation und Theoriebildung, Paradigma und Diskurs, reflektiert euer schuldloses Geworfen-sein in diese Welt, trinkt Wasser aus französischen Gebirgen, bastelt an Netzwerken und Karriere, kackt im Stehen und pisst im Sitzen.
Es kann schließlich nicht jeder ein Amundsen sein: Allein, in der weißen Hölle, schreiend, bei sich.

Sonntag, 6. Januar 2013

Kleines Senfkorn Hoffnung

Man liest vom Luminalschema und diesen Fabriken, den Morden des Westens, dem Kollateralschaden des Luxus', von den neuesten Gadgets und der Legitimationsdebatte der Geisteswissenschaft im Großen und Ganzen, kultureller Kodierung der Körper, moralischer Entrüstung und Abrüstung, Killer Cotton und Handarbeit, instrumentalisierten Antisemitismusvorwürfen und Arschlecken. Man liest in bunten Magazinen und auf hochauflösenden Bildschirmen der Apps, die uns den Blick auf die Welt verstellen, man lädt sich den Beipackzettel als PDF herunter, formatiert die Exceltabelle um, startet die abgeschmierte SAP-Applikation neu, lutscht das Bonbon mit künstlichem Litschigeschmack, verbittert.
Am Ende des Tages versickert das ganze unerträgliche Wissen langsam in den Ritzen der Nacht, doch die Unruhe bleibt, dieses unkontrollierte Zucken der Hände, der Wunsch, das Medikament auszuschleichen, doch es geht nicht, dann würde man ja unsediert vor diesem Berg aus Leichen und Hochglanzprospekten, Produkten und Softwareupdates stehen.
Und eben hält man alles für verraten und verloren, da sieht man im Schatten der regen- und sturmgeschüttelten Straßenlaterne die Hündin am Fenster sitzen, die ganz leise "Kleines Senfkorn Hoffnung" intoniert.