Donnerstag, 1. August 2013

Autopoiesis

Das staatliche Gewaltmonopol war uns suspekt, doch wir verharrten im Notstand. Wir lasen Marcuse und missverstanden ihn, wir wollten ihn missverstehen. Sartre sprach klarer. Unserer Meinung nach hing Adorno im Elfenbeinturm rum, wie ein Zombie am Glockenseil. Horkheimer war einer dieser Besserdenker, der die Kritische Theorie in einem Büro in Frankfurt säuberlich polierte.
Idealismus ohne Praxis, der nicht zur Umsetzung drängt, war für uns verdächtig. Primat der Aktion und taktische Gewalt kam uns nicht unnütz vor.
Doch es gab keine Ideologie mehr, die wir angreifen konnten, sie war bereits unsichtbar herabgesunken in unsere Art die Waren zu begehren, die Arbeit zu leisten, die Verhältnisse zu leben. Warum sonst blieben die großen Revolutionen aus? Es gab keinen benennbaren Verblendungszusammenhang mehr. Die Prozeduren des Alltags waren so evident, dass sie unhinterfragbar geworden waren. Die Strukturen lagen offen zutage, wir mühten uns vergeblich, sie noch transparenter zu machen: sie waren längst über die Ermüdung der Massen gewachsen.
Die Allgemeinheit formte die Umstände, sie wurde nicht mehr geformt; die laue Zufriedenheit wies darauf hin, dass Huxley der Wahrheit viel näher gekommen war als Orwell.
Wir bemängelten das schwindende Klassenbewusstsein, sahen sogar das Bewusstsein überhaupt in Auflösung. Die Schaffung von Mehrwert ging auf Kosten Vieler. Wir dürsteten nach einer Theorie, die alles umfasste, die unsere Aktionen stützte und deren Elemente wir in den Setzkasten unseres Kopfes integrieren konnten.
Wir fühlten den ekelhaft prosperierenden Spätkapitalismus, der rhizomatisch unsere Familienstammbäume durchwucherte.  Wir fürchteten sein Belohnungssystem zu verlieren, wenn wir etwas unternahmen, endgültig herauszufallen aus den sich beschleunigenden Zyklen von Produktion und Konsumption.
Der Gesamtzusammenhang, so sagten wir uns, ist das Falsche, das Unwahre, das allgemein Anerkannte. Das zur Totalität tendierende gesellschaftliche System durchdrang Ökonomie, Politik und Kultur und wurde zur Apparatur genussvoll vollzogener Anpassungen.
Und doch träumen wir jede Nacht von der Entfaltung der Widersprüche und Konflikte.
Aus unruhigem Schlaf schrecken wir auf.
Mit der Faust unterm Kissen.